Die Erben der Nacht - Pyras
gesammelt hat, und einen General hatten wir dabei und natürlich einige der Besten aus der Nationalgarde.«
»Ihr habt Euch wirklich dort unten auf die Lauer gelegt?« Der Direktor schüttelte sich und goss dann sein Glas mit einem Zug hinunter. »Berichten Sie, Monsieur Martel, ich flehe Sie an.«
»Unser Herr Großwildjäger war uns eine große Hilfe. Wir wussten ja nicht einmal, ob diese Kreatur, die wir jagten, ein menschliches Wesen ist. Auf den ersten Blick scheint es ja so …«
Der Direktor schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ganz unmöglich. Wenn Sie schon so lange unter ihm gelitten hätten wie ich, wüssten
Sie, dass er kein gewöhnlicher Sterblicher sein kann. Er ist ein Hexer, ein Zauberer - ein Phantom, das man nicht …!«
»Das man nicht fassen kann? Ja, das Gerücht hatte lange Bestand. Er könne sich unsichtbar machen, sich in Luft auflösen, aus dem Nichts erscheinen und wieder verschwinden. Unsere erfolgreiche Jagd hat jedoch gezeigt, dass er zwar ein Meister der Täuschung und Tarnung ist, aber eben doch nur ein Mensch. Sonst wäre er nicht in einem unserer Netze hängen geblieben.«
»In einem Netz haben Sie ihn gefangen?«
Der junge Mann nickte. »Ja, wie ein wildes Tier. Und so gebärdete er sich auch, als wir ihn fanden und fortschafften. Der Großwildjäger wusste, wie wir vorgehen mussten. Wir haben ihn aufgescheucht, gejagt und in die gewünschte Richtung getrieben, durch die er glaubte, entkommen zu können. Und da fiel das Netz und riss ihn zu Boden. Ich hatte schon Furcht, er könnte die Maschen zerreißen. Er ist unglaublich stark. Übermenschlich, möchte man behaupten. Erst eine Mischung allerlei Narkotika, die unser Herr Zoologe Girard ihm verabreichte, ließ seinen Widerstand erlahmen.«
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«, fragte der Direktor in einem rauen Flüstern.
»Ja, natürlich. Eine hässliche Kreatur.« »Hässlich? Ja, das glaube ich, aber verharmlost das die Sache nicht? Man sagt, wer einmal sein Gesicht gesehen habe, der werde von dieser entsetzlichen Fratze in seinen Albträumen verfolgt. Frauen würden in Ohnmacht fallen, werdende Mütter eine Fehlgeburt erleiden, nur vom Anblick dieses Totenschädels.«
Der junge Mann wiegte den Kopf. »Das ist schon grob übertrieben. Nun, vielleicht bin ich nicht besonders empfindlich. Ich habe durch meine Arbeit als Geograf und Höhlenforscher schon viel auf meinen Reisen gesehen, doch auch die anderen zeigten kein übermäßiges Erschrecken. Seine Zähne sind allerdings die eines Wolfes! Ein unglaubliches Gebiss in einem menschlichen Schädel. Girard zeigte sich sehr interessiert, das Biest zu erforschen.«
Der Direktor wirkte ein wenig irritiert. »Haben Sie seine Maske gefunden?«
»Eine Maske? Nein, er hatte keine bei sich.«
»Er trägt immer eine Maske!«
Der junge Mann hob die Schultern. »Dann hat er sie eben auf seiner Flucht verloren.«
»Trug er einen Frack? Einen eleganten schwarzen Frack?«, bohrte der andere weiter.
»Nein, er hatte irgendwelche Lumpen an, soweit ich das erkennen konnte. Frack, Maske, das ist doch völlig egal. Wichtig ist, dass wir ihn haben.«
»Wenn er es wirklich ist«, widersprach der Direktor, der wieder in seine düstere Stimmung versank.
»Aber natürlich ist das Ihr Phantom. Wie viele Monster treiben sich denn noch in den Labyrinthen unter der Oper herum?«
»Ich weiß es nicht und ich will es auch gar nicht wissen«, sagte der Direktor mit einer Spur Verzweiflung in der Stimme. Er zog ein großes Taschentuch hervor und betupfte sich die schweißglänzende Stirn. »Ich weiß nur, ich habe hier ein Opernhaus zu führen, und ich weiß nicht, ob ich das unter diesen Umständen noch lange kann. Bitte entschuldigen Sie mich, Monsieur Martel, ich muss mich um meine Gäste kümmern.«
Die beiden Herren reichten sich die Hände und verbeugten sich höflich.
»Wenn Sie Ihr Phantom einmal aus nächster Nähe betrachten wollen, kommen Sie in den Jardin des Plantes«, sagte Edouard Alfred Martel zum Abschied.
»Was?«
»Baillon, der Direktor, hat uns gestattet, die Kreatur in einem der Käfige der Menagerie unterzubringen.«
»Sie wollen ihn öffentlich ausstellen?«
Martel winkte ab. »Aber nein, wo denken Sie hin? Es ist ein abgetrennter Bereich für Quarantänefälle. Dies ist eine wissenschaftliche Untersuchung, kein Jahrmarkt, auf dem dem gaffenden Publikum Monstrositäten für sein Geld geboten werden!« Er wirkte ein wenig gekränkt, nickte dem Direktor noch einmal zu
Weitere Kostenlose Bücher