Die Erben der Nacht - Pyras
konnte durchaus als kriegerischer Akt verstanden und dementsprechend geahndet werden, warnte Claude.
Ein weiteres Problem war, dass sie schon von fern feststellen mussten, ob es sich um die starken und gelehrigen norwegischen Ratten handelte. Zwar hatte diese eingewanderte Art die meisten der Pariser Ratten ausgerottet, doch hier und dort war es den einheimischen Tieren gelungen zu überleben. Sie taugten allerdings nicht für ihre Übungen, vor allem auch deshalb, weil die Norweger sich sofort auf sie gestürzt hätten.
»Ihr müsst außerdem darauf achten, dass ihr passende Rudel zusammenstellt, und die Hierarchie, in der sie zusammenarbeiten und sich austauschen sollen, ihrer natürlichen Rangordnung angleicht. Ein Führungstier und sein Gefolge. Wenn ihr zwei starke Tiere zusammenzwingt, werden sie zuallererst die Führung klären und so lange kämpfen, bis einer nachgibt oder getötet wird. In dieser Zeit sind sie nicht offen für eure Befehle!«, warnte Claude.
»Wer hätte gedacht, dass ein paar Ratten so kompliziert sind«, stöhnte Luciano. Und auch die anderen mussten nach ihren ersten Versuchen zugeben, dass die Aufgabe komplexer war, als sie es erwartet hätten.
Wie schon in den ersten beiden Akademiejahren kristallisierte sich bald heraus, dass die Mitglieder der verschiedenen Clans sich unterschiedlich gut schlugen. Und wieder gehörten die Nosferas zu denen, die kein glückliches Händchen zu haben schienen.
»Tiere sind einfach nicht unser Ding«, stöhnte Luciano. Und auch die Vyrad taten sich schwer. Dass Franz Leopolds Vetter und seine Cousinen nicht weiterkamen, lag allerdings eher daran, dass sie sich keine erkennbare Mühe gaben.
In den frühen Morgenstunden, als die Erben erschöpft auf ihren Särgen saßen, meldeten Ivys beide Nager, die sie behalten hatte, die Rückkehr der Pyras. Neugierig drängten sich Alisa, Luciano, Ivy und Franz Leopold näher, um zu erfahren, was sich ereignet hatte. Sie erkannten schon von Weitem an ihren Mienen, dass die Suche nicht von Erfolg gekrönt gewesen war.
»Meinst du, er wurde vernichtet?«, raunte Alisa.
»Nein, aber sie haben keine Spur des Seigneurs entdecken können. Nicht einmal ihre Ratten konnten ihn aufspüren, weshalb sie wütend, aber auch irritiert sind«, sagte Franz Leopold, der es wieder einmal nicht lassen konnte, die Gedanken ihrer Gastgeber auszuforschen. »Sie können sich nicht vorstellen, wohin man ihn geschafft haben könnte. Ja, eine Atmosphäre der Besorgnis hüllt sie wie eine Wolke ein.«
»Vielleicht sollten wir uns mal ein wenig in und unter Paris umsehen«, meinte Luciano, und seine Augen glänzten vor Abenteuerlust.
»Ach, und du meinst, wir könnten dort fündig werden, wo die Pyras in ihrem eigenen Revier versagt haben?«, spottete Franz Leopold, doch es war nicht zu überhören, wie sehr er von dem Einfall angetan war.
Oscar Wilde schlenderte die nächtliche Straße entlang und trat dann in das Lokal am Fuß des Montmartre, über dem sich wie geisterhafte Wesen Windmühlenflügel gegen den nächtlichen Himmel abzeichneten. Nach der klaren Luft des Abends musste er unter der Tür stehen bleiben und heftig blinzeln, ehe er in den Rauchschwaden etwas erkennen konnte. Weindunst hüllte ihn ein, unter den sich noch etwas anderes mischte. Es roch nach Kräutern und ein wenig bitter. Die grüne Fee - wie man den Absinth nannte - war hier wie an vielen Orten, wo sich die Künstler und Literaten trafen, zu Hause. Er ließ den Blick schweifen, bis er an dem Gesuchten hängen blieb. Da, an einem Ecktisch, saß er in Gesellschaft zweier anderer Männer. Natürlich hatte sein Freund Bram Stoker keinen Absinth vor sich auf dem Tisch stehen, sondern nur ein Glas mit rotem Wein. Die anderen träufelten verklärt Wasser auf ein Stück Zucker, der auf einem durchbrochenen Silberlöffel über dem Glas lag, und sahen zu, wie es in die grünliche Flüssigkeit tropfte und dort neblig weiße Schlieren zog. Den Mann, der ihm den Rücken zuwandte, kannte Oscar nicht. Den Zwergwüchsigen zu Brams Linken dafür umso besser. Es war
der junge Maler und Grafiker Henri de Toulouse-Lautrec, der aus der ältesten Adelsfamilie Frankreichs stammte, die sich bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen ließ. Man munkelte, sein Zwergwuchs sei auf die inzestuösen Verbindungen innerhalb der Familie zurückzuführen, mit der die Grafen von Toulouse versuchten, die Zersplitterung ihrer Ländereien aufzuhalten. Lautrec hob sein Glas und prostete Oscar zu.
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