Die Erben der Nacht - Pyras
mussten.
»Sie nennen es Fotografie«, sagte Alisa, als die wohltuende Dunkelheit sie wieder umhüllte. »Sie machen Abbilder von der Wirklichkeit und bannen sie auf Papier. Es gehen zwar die Farben verloren, aber ansonsten wird alles naturgetreu festgehalten.«
»Ach ja, solche Bilder habe ich schon gesehen. Anscheinend brauchen sie viel Licht dazu.«
»Oder sie müssen die Linse vorne auf dem Apparat sehr lange offen lassen. Vermutlich sammelt sich dann das wenige Licht an. Allerdings darf sich das Objekt, das sie auf die Platte und dann auf Papier
bannen wollen, während dieser Zeit überhaupt nicht bewegen. Sonst wird die Aufnahme unscharf.«
»Du bist wie immer ein unerschöpflicher Quell des Wissens.« Sicher wider Willen klang Franz Leopolds Stimme bewundernd.
Auch Joanne nickte beeindruckt. »Deshalb verwendet er diese Puppen. Ich habe mich immer gefragt, warum er nicht einen der Arbeiter oder Besucher bittet, für die Aufnahmen zu posieren.«
»Was?«
»Ich zeige es euch. Kommt weiter, aber haltet euch verborgen - vor allem Seymour sollte seine Nase nicht zu weit vorstrecken. Es wäre nicht gut, wenn sie ihn entdecken.« Der Wolf brummte missmutig.
Die anderen folgten Joanne, die sich, eng an die Wand gedrückt, langsam näher schlich. Endlich konnten sie um die Ecke in eine weiträumige Höhle sehen, deren Decke von mehreren noch aus dem ursprünglichen Kalkstein bestehenden Pfeilern gestützt wurde. Links von ihnen, im hinteren Drittel, entdeckten sie vier Männer. Nein, das war seltsam. Es waren nur drei Menschen. Der Vierte war eine Art Puppe in Lebensgröße, die wie ein einfacher Arbeiter gekleidet war. Sie trug sogar die typische, zottelige Haartracht der carriers . Einer der Männer stellte die Puppe neben eine Steinsäule in Positur, als sei sie in einem Steinbruch bei der Arbeit, ein anderer richtete die Gaslampen nach Anweisungen des Dritten aus, der hinter dem Fotoapparat stand. Der große schwarze Kasten war auf einem hölzernen Dreibein befestigt.
»Mehr nach links. Das Gesicht und der Steinbrecher in seiner Hand müssen besser ausgeleuchtet werden«, sagte der Mann hinter der Kamera.
»Was macht er da und warum?«, wisperte Ivy.
»Das ist Nadar, der berühmte Fotograf, in dessen Atelier am Boulevard des Capucines sich alle möglichen Künstler einfinden, um sich von ihm ablichten zu lassen. Ganz Paris redet über ihn, seit er anfing, Fotografien in den Abwasserkanälen, den Katakomben und unterirdischen Steinbrüchen zu machen. Jetzt bereitet er eine Aufnahme ohne diesen hellen Blitz vor. Das dauert zehn oder zwölf Minuten,
und so lange dürfen die Männer nicht herumlaufen, sonst regt er sich ganz fürchterlich auf.«
»Wie kommen wir jetzt weiter?«, fragte Franz Leopold.
»Wir schleichen uns dort an der gegenüberliegenden Wand entlang«, schlug Joanne vor. »Dort dringt kaum Licht hin. Wir sind schnell und außerdem sind sie auf ihre Arbeit konzentriert. Ansonsten müssten wir einen großen Umweg auf uns nehmen oder an die Oberfläche steigen.«
Das war natürlich auch eine verlockende Möglichkeit, aber Ivy stimmte Joanne zu, dass es einfacher war, die Höhle hier zu queren.
»Seymour, bleib dicht bei mir!« Der Wolf schien eine Antwort nicht für notwendig zu erachten. Joanne sah noch einmal zu den drei Männern hinüber, dann gab sie das Signal.
Lautlos huschten die Vampire und der Wolf an der Wand entlang und erreichten die schützende Dunkelheit des gegenüberliegenden Ganges, ohne dass die Menschen etwas bemerkten. Sie warteten kurz, bis die Ratten, die sie noch immer begleiteten, sie wieder eingeholt hatten, dann setzten sie ihren Weg in gemächlicherem Tempo fort.
Alisa war in ihren Gedanken noch immer bei dem Fotografen in der Höhle hinter ihnen. »Zwölf Minuten«, murmelte sie. »So lange dauert es bei diesen Lichtverhältnissen, dass eine Aufnahme hell und scharf wird. Das ist interessant. Kein Wunder, dass er sich lebensechter Puppen bedient. Menschen können nicht so lange still halten.«
»Für einen Vampir wäre das keine Schwierigkeit«, sagte Luciano verächtlich.
»Du musst auch nicht atmen, wenn du nicht willst«, erinnerte ihn Alisa.
»Es ist ja nicht nur das«, widersprach er. »Wir sind viel schneller als sie, wenn wir wollen, aber eben auch völlig reglos, wenn es sein muss über Stunden. Unser Wille gebietet über unseren Körper. Die Menschen sind schwache Geschöpfe, die unendlich vielen äußeren Einflüssen und Zwängen unterworfen
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