Die Erben der Schöpfung
Großhirnrinde und Kleinhirn, hier und hier, sind extrem erweitert. Das Gehirn ist so eng gefaltet, dass es aussieht wie eine Riesenwalnuss. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Jetzt, wo Sie es sagen«, hakte Sameer ein, »kann ich bestätigen, dass dieser Schimpanse im Vergleich mit den anderen Jungaffen wirklich einen seltsam geformten Kopf hat. Was Sie hier sehen, heißt also, dass dieses Gehirn einem menschlichen mehr ähnelt als dem eines Schimpansen?«
»Aber nein. Er hat vielleicht sogar mehr Großhirnrinde als ein Mensch. Der Rest des Gehirns ist etwa so groß wie der eines Kindes von ähnlicher Statur. Aber die Topografie ist einzigartig. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist.«
Jeremy hackte hektisch auf die Tastatur ein. »Rog, das hier interessiert dich bestimmt. Ich schicke jetzt die Rekonstruktionen rüber. Mein Gehirn habe ich in Rot darübergelegt.«
Die anderen drei betrachteten den Monitor, während sich nach und nach ein Gitterbild aufbaute, das die dreidimensionale Konfiguration der Großhirnrinde zeigte. Die grüne Netzstruktur war etwas größer und wies mehr Faltungen auf als eine rote Netzstruktur, die darüberprojiziert war.
Stiles sprach als Erster. »Jeremy, ich hätte nie zu hoffen gewagt, eines Tages beweisen zu können, dass du das Gehirn eines Affen hast.«
Jamie schloss die Augen. Es ging alles so schnell. Sie konnte kaum glauben, dass sie noch vor wenigen Tagen nichts von diesem Schimpansen, dem Labor und der Entdeckung, die bereits jetzt ihr Leben verändert hatte, gewusst hatte.
»Sag, was du willst, Rog, aber dieses Bild kommt auf die Titelseite von Nature«, erklärte Jeremy.
»Nein«, widersprach Jamie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie blitzschnell die Zusammenhänge herstellte. Das Bild, das sich ergab, war in seinen Konsequenzen so atemberaubend, so überwältigend, dass sie es kaum glauben konnte. »Sie begreifen es nicht. Hier geht es nicht um einen Aufsatz für Nature.«
»Na gut, dann eben in Science. Mir doch egal«, konterte Jeremy.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Stiles, indem er Jeremys Kommentar ignorierte.
Jamie holte tief Atem. »Hier geht es nicht um die üblichen Themen. Hier geht es um die fundamentalste Frage, die die moderne Wissenschaft je beantwortet hat. Es geht um Gott.«
»Nicht gleich ausnippen, Jamie. Wir sind alle fasziniert, aber…«
»Es geht um die menschliche Seele, den Geist, die Essenz, wie auch immer Sie es nennen wollen.«
»Immer mit der Ruhe, Jamie. Sie werden ja ganz philosophisch«, meinte Stiles.
»Nein. Die Philosophie ist am Ende. Mit dem heutigen Tag ist die letzte große Debatte der Philosophie ins Reich der Naturwissenschaft eingetreten.«
»Wie das?«
»Was trennt diesen Schimpansen von Ihnen und mir?«
»Zum Beispiel sein Körpergeruch.«
»Also, ich habe jedenfalls eine Theorie. Was, wenn die Beobachtungen, die wir über diesen Schimpansen anstellen, alle korrekt sind? Sameer sagt, er beherrscht Sprache und Problemlösungen. Ich habe ihn ein Kunstwerk anfertigen und über seine Identität reflektieren sehen. Sie sagen mir, er habe das Potenzial, so komplex zu denken wie ein Mensch. Was, wenn ich Ihnen beweisen kann, dass er kreativ oder eifersüchtig sein und mit Symbolen umgehen kann? Was, wenn ich ihm beibringen kann, zu dichten oder zu komponieren? Seine Frau zu betrügen? Was, wenn ich ihn lehre zu beten?«
Jamie hielt inne, während die anderen ihre Worte verarbeiteten. »Die Frage ist nur: Zu wem betet er? Ist Nakamura sein Gott? Schließlich hat er ihn erschaffen. Wenn dieser Schimpanse wirklich all das ist, was wir in ihm vermuten, kann man von ihm ebenso wenig behaupten, er hätte keine Seele, wie von einem von uns. Und wenn man eine unsterbliche Seele erschaffen kann, indem man ein paar Gene manipuliert, dann behaupte ich, dass es keine unsterbliche Seele gibt. Wenn der Schimpanse uneingeschränkt empfindungsfähig ist, dann ist Gott tot, und wir können es beweisen.«
Sameer runzelte die Stirn. »Wow, Jamie. Das ist ja krass.«
Stiles schüttelte den Kopf. »Das kaufen uns die Leute nicht ab. Er ist und bleibt immer noch ein Tier, ganz egal, wie intelligent er ist. Er ist kein Mensch.«
»Warum denn nicht? Genau darum geht es doch«, entgegnete Jamie. »Neunzig Prozent der Menschen auf diesem Planeten glauben an eine Art Geist oder Seele. Sie glauben, es steckt in jedem von uns etwas, das mehr ist als elektrische Impulse in einer Proteinsuppe. Sie glauben an
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