Die Erben des Terrors (German Edition)
ließ den Motor an, sagte kurz der Marina über Funk B escheid, dass er auslaufen würde, und beobachtete Elena beim Losmachen der Leine. Als es so aussah, als hätte sie bald wirklich Grund, „ Klar “ zu rufen, löste er die letzte Achterleine und drückte den Gashebel nach vorne. Das Heck drehte sich leicht nach links, sodass das ganze Boot nach Backbord gedreht wurde, und der Wind glich das im Gegensatz zu seinem alten Boot nicht sofort aus.
Langsam nahm das Boot Fahrt auf, und er blickte zu Elena auf dem Vordeck, die freudestrahlend rief, dass die Leine los sei. Sie hatte sie nur nicht in der Hand.
Dreyer blickte sich irritiert um, sah die Leine halb an Land, halb im Hafenbecken und sprang auf das Cockpitsüll, löste den Bootshaken aus seiner Halterung und zog ihn auf gute vier Meter aus, lehnte sich über die dünne Reling aus plastikummanteltem Stahldraht und versuchte, die Leine einzufangen. Es gelang, und nach zehn Sekunden war sie an Bord. Er hetzte zurück ins Cockpit, schlug das Ruder voll ein und schaffte die Kurve in Richtung der Hafenausfahrt gerade noch, bevor sein Bug in gefährliche Nähe zu einem Kleinkreuzer am Steg J gelangt wäre.
Elena hatte alles mit einer Mischung aus Verwunderung, Entsetzen und, mit dem sich nähernden Kleinkreuzer, Panik beobachtet. Auf seine Handgeste hin kam sie ins Cockpit.
„Du verkaufst sehr teure Boote an sehr reiche Leute, richtig?“, fragte er, sehr nett, wenn auch innerlich etwas sauer.
„Äh… ja?“
„Schau, wir nicht so reichen Leute verwenden unsere Leinen mehr als einmal.“
Elena schämte sich ein wenig und blickte schuldig. „Kann ich das wieder gu tmachen?“
Daniel nahm ihre Hand, zog sie zu sich und küsste sie fest, intensiv, aber nicht lange – die Hafenmauer war zu nah. „Alles gut“, sagte er.
Teil III
Im Südpazifik
17. Februar 2013
15° 55’ 22.58” Süd, 145° 58’ 19.16” West
Toau, Fakarava, Tuamotu-Archipel, Französisch-Polynesien
Grigory Dzerzhinsky schüttelte den Kopf, als er im Radio hörte, dass es in Skovorodino 10.4 Grad Außentemperatur hat. Ausgerechnet in Skovorodino, einem Durchfahrtsort der Transsibirischen Eisenbahn, einem kleinen Örtchen mit nicht einmal zehntausend Einwohnern. Und auch wenn Skovorodino in einer viel zu warmen Gegend lag, als dass es in der Nähe jemals ein Gulag gegeben hätte, war es doch nicht der einladendste Ort der Welt. Vor allem war es aber sicher kein Ort, der irgendjemanden interessierte – obwohl, 10.4 Grad Außentemperatur im Februar waren gute dreißig Grad mehr, als man erwarten konnte.
Aber Dzerzhinsky wunderte sich nicht allzu sehr, war doch jeden Tag der vergangenen Woche in irgendeinem unwichtigen russischen Dorf mitten im Nirgendwo eine Temperatur von 10.4 Grad gemeldet worden, nur um dies am nächsten Tag zu korrigieren. Am ersten Tag hatte er es gar nicht mitbekommen; Lukojanow war ihm irgendwo her geläufig, er wusste nur nicht mehr, woher. Aber als dann am folgenden Tag in Nischnjaja Tura, einem unwichtigen, kleinen Ort im zentralen Ural, ebenfalls 10.4 Grad gemeldet worden waren, vor allem aber als die Meldung vom Vortag auf 10.4 Grad unter null korrigiert wurde, war ihm ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen.
Das Gefühl hatte er seit Jahren nicht gehabt – eine eisige Kälte, die von innen he raus zu kommen schien. Von außen hätte sie auch nicht kommen können – hier im Südpazifik hatte es jeden Tag zwischen fünfundzwanzig und dreißig Grad, im Sommer wie im Winter, am Tag und in der Nacht. Vor allem aber war gerade Sommer. Nein, die Kälte kam aus seinem Inneren, von einem Ort, den er seit neunundvierzig Jahren nicht besucht hatte, aus den Tiefen einer Werfthalle in Nikolajew am Schwarzen Meer.
Dzerzhinsky schaltete seinen Weltempfänger aus, das Rauschen verstummte und um ihn herum kehrte die Ruhe ein, an die er sich so gewöhnt hatte. Er hörte nur noch das leise Plätschern der Wellen an seinem Boot. Er öffnete das Barfach an der Backbordseite und nahm eine Flasche Rum heraus, ging auf die gegenüberliegende Seite und öffnete ein anderes Schapp, um sich ein Glas zu nehmen. 10.4 Grad, wiederholte er in Gedanken, und verzichtete auf das Glas. Nach fast fünfzig Jahren war es tatsächlich so weit. Er stieg die alte Treppe aus sprödem Lärchenholz nach oben.
„ Eaha te tumu?“, fragte Célestine, die auf der steuerbordseitigen Sitzbank im Cockpit lag, zwischen Bimini und Sprayhood in den Sternenhimmel blickend.
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