Die Erben des Terrors (German Edition)
schwerer war als er aussah.
Abschiedsgeschenk , wiederholte Dreyer in Gedanken, Jorge hatte das jetzt zweimal benutzt. „Ich gehe davon aus, dass dein Bruder – äh, Wert darauf legt, mich nicht wiederzusehen.“
„Si, Señor!“
„Und der Mann im schwarzen Anzug?“
„Es tut mir leid, Señor Daniel, aber mein Bruder bestand darauf, dass Sie niemand auf dieser Insel wiedersehen würde, wenn sie noch hier sind, wenn der Mann keinen Schatten wirft.“
Dreyer sah auf seine Uhr, kurz vor zehn Uhr morgens. Venezuela hat nur eine Zeitzone, die sich am Sonnenhöchststand in Caracas orientierte – weswegen er fünfeinhalb Stunden hinter Londoner Weltzeit war. Mittag wäre dann etwa zehn vor zwölf. Er atmete tief durch.
Vierzig Minuten später waren die Wassertanks gefüllt, und der Mann im schwarzen Anzug hatte ihn beim Versuch, seine Rechnung im Marinabüro zu begleichen, davon abgehalten, an Land zu gehen. Nachdrücklich. Dafür hatte er aber auch erklärt, dass El Patrón bereits alles beglichen hätte. Um viertel nach Elf verließ Dreyer Margarita in Richtung Südwesten, die Halbinsel Macanao umsegelnd, mit Ziel Cumaná.
Cumaná war sechs Stunden entfernt, er würde noch vor Sonnenuntergang ei ntreffen – nach dem Stress der letzten Tage wollte er nicht einen fremden Hafen bei Nacht kennen lernen. Aber etwa nach der halben Strecke erinnerte er sich an ein gewisses Etablissement in Cumaná, das Jesús Gómez erwähnt hatte. Er sah auf sein Smartphone, scrollte ein wenig und änderte seinen Kurs nach Westen, in Richtung Puerto La Cruz. Auch wenn er da erst weit nach Mitternacht ankommen würde. Er ging unter Deck und durchsuchte die große, alte Seekarte nach einer Ankerbucht, die näher lag.
Er blieb bei Boca de Loco h ängen, der Rachen des Wahnsinns. Er fand das passend und suchte die kleine Insel in der Ensenada Tigrillo auf seinem Smartphone. Enttäuscht stellte er fest, dass er sich verlesen hatte und die Insel eigentlich anders hieß. Aber das Navigationsprogramm berechnete seine Ankunftszeit mit kurz vor halb sieben, er hätte noch etwas Tageslicht. Mit einer Banane aus dem Kühlfach und einer Flasche Santa Teresa 1796, wirklich köstlichem, gleichwohl teuren Solera-Rum, ging er wieder ins Cockpit.
One-Time Pads
27 . Juni 2013
10° 21’ 44.70” Nord, 64° 26’ 03.30” West
100 Meter vor der Westküste von Caracas del Este, Venezuela
Die Bucht zwischen den Inseln Caracas del Este und Caracas del Oeste war, wie Dreyer sogar in der Dunkelheit feststellen konnte, perfekt. Zum Ankern jedenfalls, es gab keine Strömung, keine hohen Berge, nichts, was irgendwie stören könnte. Die Fahrt hatte zwar etwas länger gedauert, war aber völlig unspannend und daher sehr entspannend. Nachdem der Anker sicher hielt, ging er in die Pantry und briet sich ein Rindersteak und zwei Spiegeleier. Dazu genehmigte er sich ein Cerveza Polar, ein erstaunlich trinkbares venezuelanisches Bier.
Obwohl das Essen zwar lecker war – Dreyer hatte in den letzten drei Jahren sehr viel Zeit gehabt, zu kochen – konnte er es dennoch nicht wirklich genießen. Er wollte endlich wissen, was in dem Tresor war. Er schlang es also hastig hinunter und spülte dann schnell und sorglos ab – nichts ist es wert, dass sich Insekten auf dem Boot wohlernährt fühlen.
Er fasste an seine Brust und fühlte den Schlüssel an dem goldenen Kettchen, den ihm Jorge gegeben hatte. Wie der mysteriöse Schweizer Russe, dachte er, hob das an den ehemals verschraubten Ecken zerstörte Bodenbrett an und stellte es zur Seite. Er betrachtete den Tresor einen Sekundenbruchteil und drehte dann das Zahlenschloss ein paar Mal im Kreis, bis sich das Hakeln weitgehend erledigt hatte. Dann stellt er die erste Zahl ein: dreimal rechtsrum auf 09. Zweimal linksrum auf 05. Einmal rechtsrum auf 63.
Dreyer streifte sich die Halskette über den Kopf und führte den noch vom Schleifen öligen Schlüssel in das Schloss ein, drehte ihn einmal im Uhrzeige rsinn und hielt den Atem an, während sich seine rechte Hand dem Öffnungshebel näherte. Er umfasste den kalten, mit leichter Patina besetzten Metallgriff fest mit der Hand und drehte daran. Er bewegte sich ohne Probleme und mit einem kaum wahrnehmbaren Klack-Geräusch um neunzig Grad. Dreyer atmete tief durch.
Wollte er wirklich wissen, was in dem Tresor war? Was, wenn der nette alte Mann ein Krimineller vom Schlage von Señor Jesús Gómez gewesen war? Was, wenn er schmuggelte, Diamanten zum Beispiel? Für
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