Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
und lebenswichtiger war als Luft, Wasser oder Nahrung.
Nach zwei Monaten hatte er es nicht mehr ausgehalten. Er war fast sechsundzwanzig und wünschte sich eine Frau, ein Heim und Kinder … Mary. Er wollte sie einen Herzschlag von sich entfernt im Bett spüren, abends bei Tisch auf dem Stuhl neben sich sehen. Er konnte lernen, zweite Geige zu spielen. Letztlich ging es doch nur darum dabei zu sein.
Er kehrte ins Innere des Zugs zurück, der innerhalb der nächsten Viertelstunde in Howbutker ankommen würde. Vielleicht, dachte er, war es gar nicht so schlecht, wenn seine Eltern nichts von seiner Rückkehr wussten, denn so konnte er Mary zuerst aufsuchen. Heute war der Tag, an dem seine Mutter im Country Club Bridge spielte, und sein Vater wäre ohnehin im Büro. Percy würde die Droschke nach Hause nehmen und seinen Wagen holen, ohne dass sie etwas merkten.
Wenn er Mary nicht daheim anträfe, würde er schnurstracks zur Plantage fahren und seinen Eltern später sagen, dass er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.
Im Gang begegnete ihm der junge schwarze Schlafwagenschaffner, der aus Howbutker stammte und seinen Namen kannte. »Mister Percy, Sie haben heute Morgen das Frühstück verpasst. Soll ich Ihnen noch schnell was herrichten?«
»Nein, danke, Titus. Wir sind in ein paar Minuten da, und ich weiß, wo ich das beste Frühstück diesseits des Sabine River kriegen kann.«
»Und wo, Sir?«
»Bei Sassie in Howbutker.«
Titus nickte. »Im Haus von Mary Toliver also. Oder sollte ich besser sagen: Im Haus von Mrs Ollie DuMont ?« Er lächelte fröhlich, so dass seine weißen Zähne im Licht der Lampe glänzten.
Percy stützte sich am Geländer hinter sich ab. »Wie bitte?«
»Sie haben schon richtig gehört. Die beiden sind wahrscheinlich gerade weg. Ich dachte, Sie wüssten Bescheid über die Hochzeit. Groß war die Feier nicht gerade. Miss Mary und Mister Ollie haben ziemlich hastig geheiratet, weil er ’ne Weile nach Paris wollte. Die Reise hat was mit dem Geschäft von seinem Vater zu tun und soll wohl Berufliches und Vergnügen verbinden.«
Genau wie ein paar Jahre zuvor im Schützengraben, wenn eine Granate direkt neben ihm explodierte, wurde Percy plötzlich von absoluter Stille umfangen.
»Mister Percy, alles in Ordnung?«, fragte Titus.
Percys Lippen bewegten sich kaum. »Woher weißt du das?«
»Stand in der Zeitung, sogar mit ’nem Foto von dem Brautpaar. Miss Mary hatte ein weißes Kleid an und Ollie einen schicken Anzug. Mister Percy, darf ich Ihnen sagen, dass
Sie sehr blass sind? Soll ich Ihnen nicht doch ein Frühstück bringen?«
»Nein, nein, Titus. Wie haben sie ausgesehen? Ich meine, auf dem Bild?«
»Mister Ollie, der hat diesen glücklichen Bräutigamblick. Obwohl er einbeinig ist, schaut er Miss Mary ganz verliebt an …« Er schwieg verlegen. »Ich meine …«
»Mir ist klar, was du meinst. Erzähl weiter. Und Mary?«
»Die wirkt auf dem Foto nicht sonderlich fröhlich. Ist oft so bei den Frauen, wenn sie heiraten …« Erneut wurde der Schaffner verlegen. »Miss Mary musste ja die ganze Hochzeit organisieren und für die lange Reise nach Europa packen. Das würde jeden müde machen …« Titus schwieg kurz. »Mister Percy, ich glaube, Sie könnten eine Tasse Kaffee vertragen. Bin gleich wieder da.«
Percy sank gegen die holzvertäfelte Wand des Gangs. Unmöglich. Ein übler Traum. Mary konnte – würde – niemanden als ihn heiraten. Sie gehörten zusammen, waren eins. Titus musste sich täuschen. Percy tastete sich an der Wand entlang, bis er sein Abteil erreichte, wo er sich aufs Bett warf. Als er wenig später den Schaffner klopfen hörte, stand er auf und warf einen Blick in den Spiegel, bevor er »Herein!« rief. Percy erkannte sich selbst nicht mehr. Seine Lippen waren schmal und blutleer. Er hatte das Gefühl, innerhalb von fünf Minuten um zehn Jahre gealtert zu sein. »Stell den Kaffee hierhin, Titus. Das Trinkgeld liegt auf dem Nachtkästchen.«
»Ich nehm mir einen Zehner, Mister Percy. Willkommen daheim.«
Das muss ein Irrtum sein , dachte Percy wieder. Doch sein Verstand zwang ihn zu akzeptieren, was sein Herz nicht glauben wollte. Es war kein Irrtum. Mary hatte Ollie geheiratet, um Somerset zu retten, nachdem sie von ihm abgewiesen worden und er ohne ein Wort in die kanadischen Rockies
verschwunden war. Wie konnte sie ihm – ihnen – das antun? Seinen besten Freund heiraten, einen Mann, den sie nicht liebte und auch nie lieben würde wie ihn …
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