Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
zu spielen. Ich habe ihn angefleht, sich zu schonen, mehr zu essen, genug zu trinken …«
In seinen Ohren dröhnte es. Warum erzählte sie ihm das alles?
»Und auch wenn du das nicht glaubst: Ich habe ihn nicht nach Somerset mitgeschleppt, um ihm das Familienvermächtnis aufzudrängen, sondern weil dies die einzige Möglichkeit war, Zeit mit ihm allein zu verbringen. Ich habe nur für die Sommerferien und die Samstage gelebt, weil mir klar war, dass irgendwann der Zeitpunkt käme, wenn ich ihn … seinen eigenen Träumen überlassen müsste. Er hatte gesagt, er würde gern Trainer werden.«
Warum erzählte sie ihm das alles? Er ahnte es. Sie vermutete ganz richtig, dass er sich in den ersten schlimmen Tagen der Trauer gefragt hatte, ob Matthew noch leben würde, wenn sie zu Hause gewesen wäre und seine Erkrankung bemerkt hätte. Doch das war ungerecht. Sie hätte vierundzwanzig Stunden da sein können, ohne etwas an der Lage zu ändern, weil Matthew seinen Zustand vor ihr verheimlicht hätte. Percy hatte Jahre gebraucht zu erkennen – und sich einzugestehen –, dass Matthew zu Ollie gehörte. Mary hatte Matthew geliebt, aber wichtiger war ihm der Mann gewesen, den er für seinen Vater hielt. Ollie war sein Vertrauter, sein Freund und Kumpel. Mary hatte fast wie ein Eindringling gewirkt, egal, wie sehr sie sich bemühte, eine Verbindung zu Matthew zu knüpfen, und sich – wie immer, wenn sie sich allein fühlte – der Plantage zugewandt. Erst jetzt wurde Percy klar, wie verletzt und einsam sie gewesen sein musste.
»Sieh mich an, Mary.« Er hatte sie schon einmal falsch eingeschätzt, als er glaubte, sie habe Ollie geheiratet, um Somerset zu retten. Den Fehler würde er nicht noch einmal machen.
Sie ließ seine Hand los und drehte sich zu ihm um. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Der Kummer hatte ihre Züge hart und ihre Augen stumpf werden lassen, und die ersten grauen Strähnen in ihren Haaren, das sie zurückgekämmt trug, traten deutlicher hervor. Er legte sanft die Hände um ihre Schultern. »Matthews Tod ist nicht deine Schuld, Mary. Vergiss den Unsinn. Keiner von uns konnte das ahnen.«
»Dann machst du mir also keine Vorwürfe? Ich dachte, du hältst das für den Toliver-Fluch.«
Der Gedanke war ihm durchaus gekommen. Wie konnte es Zufall sein, dass Mary einen zeugungsunfähigen Mann heiratete und dann noch ihren einzigen Sohn im Alter von sechzehn Jahren verlor, so dass als Erbe der Tolivers nur William blieb? Ihr Vater und ihr Bruder hatten an den Fluch geglaubt, und Miles hatte sogar prophezeit, dass er eines Tages Mary treffen würde. Percy hatte den Gedanken als irrational abgetan. Für ihre Lebenstragödie war kein Fluch verantwortlich. Die hatten sie sich selbst zuzuschreiben. »Quatsch«, sagte er. »Matthew ist an einer durch Staphylokokken verursachten Lungenentzündung gestorben, nicht an irgendeinem blödsinnigen Fluch.«
»Ich dachte sogar …« Sie rang die Hände. »… dass wir – ich – für den Verkauf von Miles’ Grund und Boden bestraft werde … dass Gott für Gerechtigkeit sorgt … indem er uns Matthew nimmt.«
Wir. Uns. Natürlich meinte sie sich und Ollie. »Unsinn«, wiederholte er, ein wenig verärgert, aber auch erschrocken über ihren schuldbewussten Blick. Wenn das die Fragen waren, mit denen sie da am Fenster rang, würde sie sich niemals mehr erholen. »Wir haben getan, was wir tun mussten, für das Wohl aller.«
»Meinst du?«, fragte sie.
Am liebsten hätte Percy sie geschüttelt. Wie konnte sie ihre
Motive ausgerechnet jetzt in Zweifel ziehen? »Hör auf damit! Wir haben diese Entscheidung Ollie zuliebe getroffen. Sonst hätte er sein Geschäft verloren, und du hättest die Plantage verkaufen müssen, damit ihr nicht verhungert.«
»Dann hast du dabei nicht an Matthew gedacht?«
»Aber natürlich! Ich musste doch dafür sorgen, dass ihm trotz der kolossalen Dummheit seiner Eltern am Ende noch was bleibt!«
Nach einem Moment verblüfften Schweigens begannen ihre Augen zu leuchten. Er ließ ihre Schultern los und trat, bestürzt über seine Worte, einen Schritt zurück. Nun war es heraus.
»Dann weißt du es also?«, fragte sie mit ruhiger Stimme. »Eigentlich war es mir klar.«
Er konnte nicht mehr leugnen. »Ja.«
»Wie lange schon?«
»Seit Ollies Anpassung der Prothese in Dallas. Dort ist mir zufällig seine Krankenakte in die Hände gefallen. Als mir aufgegangen ist, wie weitgehend seine Kriegsverletzung war, wusste ich, dass
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