Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
verzweifelt. Die Hunde waren wild und auf ihre Beute versessen. Die Jäger lachten im Gegensatz dazu. Ihr Haar wehte in einer unsichtbaren Brise, und ihre Augen leuchteten freudig.
» So viele Einzelheiten in einem Wandteppich « , bemerkte Malian zum ersten Mal, obwohl sie in den vergangenen Tagen schon hunderte Male daran vorbeigegangen sein musste. Sie schaute wieder auf das Reh und zog eine Grimasse, weil auch sie sich gefangen und bedrängt fühlte. Es gab keinen Ausweg und keine Freunde, an die sie sich wenden konnte.
» Trotz der Eide, die man vor mir in der Hohen Halle abgelegt hat « , dachte sie ein wenig säuerlich. » Doch vielleicht hatte all das, was in der Alten Burg geschehen war, keine Bedeutung, oder ich habe alles nur geträumt. «
Wenn die Nacht fällt, fallen alle. Der alte Spruch flüsterte in Malians Kopf. Sie wandte sich wieder dem Tisch zu. Schockierend war, dass die Nacht verletzlich war, denn nur drei von ihrem Blut waren noch übrig. Eine der drei war bereits ans Tempelviertel gebunden. Sie starrte den Pfad des Ij entlang, der golden glänzte, sah ihn aber nicht. Wenn die Nacht fällt, fallen alle. » Ist das der Grund, warum der Schwarm gegen mich losschlägt? « , flüsterte sie. » Was, wenn es nicht deswegen war, weil ich die Erwählte von Mhaelanar bin, oder nicht nur deswegen? Was, wenn der Schwarm der Finsternis die Gelegenheit sah, das uralte Verhängnis auszulösen, indem er einen Schlag gegen das verbleibende Blut führte und somit die Nacht und die gesamte Derai-Allianz ungeschützt dastehen ließe? « Sie nahm an, dass eine derartige Kriegslist wohl als geglückt gelten konnte, wenn man sie ins Exil schickte und für den Rest ihres Lebens wegsperrte.
Langsam hob sich Malians Kopf. Das würde sie nicht zulassen, konnte sie nicht zulassen, wenn alles, was Yorindesarinen ihr gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Und selbst, wenn nicht, wenn sie das alles wirklich geträumt hatte … An dieser Stelle schüttelte Malian den Kopf. Sie hatte es nicht geträumt, doch sie hatte zugelassen, dass diese Suite ihren Geist und ihren Körper in einen Käfig sperrte. Jetzt dachte sie nur wie ihr Vater, soweit es den Schwur, das Gesetz und die Pflicht anging.
» Und sieh, wo es uns hingeführt hat. « Malian runzelte die Stirn. » Es muss einen anderen Weg geben; einen Weg um den Schwur herum, der die Nacht rettet, ohne meine Ehre zu opfern. «
Yorindesarinen hatte selbst gesagt, dass sie den Wall verlassen musste. Die größte Heldin der Derai würde ihr sicherlich nicht einen Weg empfehlen, der unehrenhaft war. Geistesabwesend drehte Malians Hand den silbernen Armreif auf ihrem Oberarm, der unter ihrem Ärmel versteckt war. Was, wenn sie floh, anstatt untätig darauf zu warten, dass man sie fortschickte? Doch wo könnte sie nur hingehen?
Sie überlegte, was Kalan wohl sagen würde, wenn er hier wäre. Sie hatte mehrere Male erfolglos versucht, ihn mit ihrem Geist zu erreichen. Jetzt fragte sie sich, ob die Entfernung vom Quartier des Grafen zum Tempelbezirk schlicht zu groß war, oder ob sie einen Mittler, wie zum Beispiel die Herolde oder Hylcarian brauchte, damit die Gedankensprache funktionierte?
Malian ging langsam zurück zum Feuer und sank in einen tiefen Armsessel. Das Kinn stütze sie auf die Hände. Sie brauchte jemanden zum Reden, dem sie vertrauen konnte – nicht nur über ihre Gedanken zur Zukunft, sondern auch über alles, was sie in der Alten Burg entdeckt hatte: das Goldene Feuer, Yorindesarinen, und nicht zuletzt Kalans Andeutung, dass es Derai-Flüchtlinge im Schwarm gab, die sich dort von Anfang an befunden hatten. Sogar der unheimliche Zauberer, fiel ihr mit Unbehagen ein, hatte trotz seiner Auszehrung wie ein Derai ausgesehen. Malian fragte sich, was sie wohl gesehen hätte, wenn sie unter die geschlossenen Visiere der Toten geschaut hätte. Wären die Gesichter als Derai erkennbar, oder durch ihre lange Verbindung mit dem Bösen des Finsteren Schwarms entstellt gewesen? Wären dort überhaupt Gesichter gewesen?
Malian sprang aus dem Sessel auf, um erneut hin und her zu laufen. Sie war angespannt und unruhig. Sie hatte gehofft, über einige ihrer Erfahrungen aus der Alten Burg mit Nhairin reden zu können, doch die Hofmarschallin war während ihrer flüchtigen Besuche kurz angebunden und abgelenkt, ja beinahe kühl gewesen. Und warum hielten Haimyr und Asantir sich von ihr fern? Malian blieb stehen, kaute auf ihrer Lippe und starrte in das Herz des Feuers. Dann
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