Die Erbin der Nacht: Roman (German Edition)
jenen, die ihre Vorgänger hinterlassen hatten – so wie der schwarze Speer von Ehrenhauptmann zu Ehrenhauptmann seit vielen Generationen weitergereicht wurde.
Asantir fragte sich, seit wie vielen Generationen genau, und starrte auf den leeren Platz, wo der Speer gehangen hatte. Er war geheimnisumwittert, ja, er musste es sein, wenn so eine mächtige Waffe dort gehangen hatte, übersehen worden und für so lange Zeit nicht benutzt worden war. Sie nahm an, dass sie etwas finden musste, um die Lücke irgendwann zu füllen. Doch im Moment war sie damit zufrieden, das Andenken an den Speer zu ehren, indem sie seinen Platz leer ließ. Sogar jetzt hörte sie sein Lied, tief, lebhaft und eindringlich, während er kampfeslustig klang und dann frohlockend, während er durch die Luft flog. Erneut sah sie die schreckliche Schönheit, als er Feuer fing und ins Herz seines Feindes stieß. Das war eine schöne Art zu gehen, wenn man schon gehen musste; den Feind mit in die Finsternis zu nehmen.
Asantir schob diese Gedanken beiseite und ging hinüber, um das Schachbrett auf der Ecke des Schreibtischs zu betrachten. Auch das gehörte ihr. Die kleinen Spielfiguren waren in dem traditionellen Weiß und Schwarz gehalten. Jede war aufwändig und wunderschön geschnitzt und stellte jemanden in der Derai-Welt dar. Der Graf war der König, den man fangen musste, um zu gewinnen, das Herzstück des Spiels. Der Erbe war immer das mächtigste und vielseitigste Stück auf dem Brett. Der Hohepriester und die Priesterin flankierten den Grafen und den Erben auf beiden Seiten. Der Ehrenhauptmann und der Burgkommandant ritten neben ihnen auf ihren feurigen Rössern. Die Burgen schließlich nahmen beide Seiten des Bretts ein. Vor den Hauptfiguren stand eine Reihe von acht unerschütterlichen Wachen.
Fußsoldaten, grübelte Asantir, Bauern der größeren Spieler – nur konnte ein Bauer auf dem Schachbrett durch Geschicklichkeit und Ornoriths Hilfe Erbe werden, was im wirklichen Leben unmöglich war.
Die schwarzen und weißen Figuren standen auf dem Brett verteilt, als ob jemand mitten im Spiel fortgegangen wäre. Asantir betrachtete sie gedankenvoll. Ihre Hand schwebte über einer Figur. Doch dann zuckte sie mit den Schultern und warf ihren Umhang auf einen Stuhl. Sie drehte sich um und spritzte sich Wasser über die Hände und ins Gesicht. Der Waschtisch stand in dem langen, engen Schlafzimmer, das von dem Büro abging. Der spartanische und einfache Raum war nur für Not- und Kriegsfälle gedacht. Doch nach Jahren der Grenzpatrouillen und des Kasernenlebens war das Feldbett für Asantir bequem genug. Sie hatte nur selten in dem verhältnismäßig luxuriösen, offiziellen Quartier des Ehrenhauptmanns geschlafen.
Auch nachdem sie sich gewaschen hatte und in das Büro zurückgekehrt war, löste Asantir weder den Schwertgürtel noch zog sie das Kettenhemd aus, das sie immer im Dienst trug. Trotz ihrer Müdigkeit und dem Schmerz in ihrer Schulter – oder vielleicht wegen ihm – fühlte sie sich keineswegs müde. Die nagende Unruhe blieb, und Asantir wandte sich wieder dem Schachbrett zu. Sie betrachtete es erneut und runzelte leicht die Stirn.
» Interessant. « Asantir setzte sich rittlings auf einen Stuhl und legte ihr Kinn auf die Arme, die auf der Lehne ruhten. Sie dachte über die Anordnung der Figuren nach. Ihre Augen waren zusammengekniffen. Doch sie war nicht so konzentriert oder müde, dass ihr das leise Glöckchenklingeln im Flur entgangen wäre, oder die leichtfüßigen Schritte an ihrer Tür. » Willkommen, Haimyr der Goldene « , sagte sie, ohne den Kopf zu drehen. » Was führt Euch so spät hierher? «
Die Glöckchen klingelten sanft, der Barde schlenderte herein und stellte sich neben ihre Schulter. » Interessant! « , stellte er fest und gab damit ihren Kommentar wieder. » Schwarz und Weiß scheinen einander sehr ebenbürtig zu sein. « Er zögerte und fügte dann unbeschwert hinzu: » Obwohl Schwarz seinen Erben besser einsetzen sollte, statt ihn so einzukesseln – insbesondere da Weiß die Mitte des Bretts dominiert. «
» Ihr habt recht « , antwortete Asantir. » Schwarz spielt viel zu defensiv. All seine Figuren sind noch unversehrt, doch das Verständnis für Stellungsspiel ist dürftig. Ich werde sehen, ob ich das beheben kann. «
» Ah « , sagte Haimyr. » Ihr spielt beide Seiten? Das verdirbt das Spiel. Wir müssen wirklich einmal gegeneinander spielen, Ihr und ich. «
Asantir schüttelte den Kopf. » Das werden
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