Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
flüsterte einer der Männer, die drankommen würden.
Der General kletterte in seine Kutsche zurück. Das Pergament lag neben dem Gefährt auf dem Boden. Die unbekannte Frau schritt auf den Trommler zu, nahm ihm, noch bevor jemand reagieren konnte, beide Schlagstöcke weg und warf sie in hohem Bogen hinter den Galgen. Der Trommler gaffte sie an, die Rechte schon halb zum Schlag erhoben, aber etwas in ihren Augen ließ ihn die Hand wieder senken. Der letzte Trommelschlag verhallte in der Luft. Der Profos murmelte in sich hinein, und dann tat er etwas, das Samuels Fassung mehr erschütterte als alles bisher Geschehene: Er zog den Hut vom Kopf und kniete vor der unbekannten Frau nieder.
Diese nickte ihm zu und sprang über den Schnee zurück zu Königsmarcks Kutsche. Doch der General schien dem Mann auf dem Kutschbock ein Zeichen gegeben zu haben; der Wagen fuhr los, wendete und rollte zurück zum Stadttor. Die Frau bückte sich, hob das Pergament auf und zeigte es dem Profos. Der nickte gottergeben. Er stand auf, stülpte sich den Hut auf den Kopf, sagte etwas zu dem Trommler, räusperte sich und sagte es erneut.
»Und womit, wenn’s recht ist?«, hörte Samuel den Trommler fragen.
»Mit deinen Händen, wenn du nicht willst, dass ich sie dir so tief in dein Maul stopfe, dass ich sie beim Arsch wieder rausziehen kann!«, brüllte der Profos.
Der Trommler duckte sich und schlug einen neuen Takt mit den bloßen Händen. Es war ein Marschrhythmus. Die Männer des Profos nahmen links und rechts neben Samuels Häuflein Aufstellung. Der Wachposten in der Unterhose fiel seitlich um wie ein Holzklotz. Seine beiden Bewacher hoben ihn mangels anderer Befehle hoch und schleppten ihn herüber.
»Aaaaab-MARSCH!«, röhrte der Profos.
»Scheiße!«, krächzte der eine der Småländer, die sich gerade noch kurz vor dem Strick befunden hatten.
»Sechs oben, zwölf auf dem Weg«, sagte Alfredsson erschüttert. »Auf dem Weg zurück.«
Samuel sagte nichts. Er suchte den Blick der unbekannten Frau, die neben dem Weg stehen geblieben war. Er drehte sich zu ihr um, bis er ins Stolpern geriet und Alfredsson ihm auf die Fersen trat. Sie hatte seinen Blick die ganze Zeit erwidert. Nun lächelte sie.
8.
Die Männer bewahrten Disziplin, bis man sie zurück in ihr Quartier geführt hatte. Dort äußerte sich die überstandene Todesangst ganz unterschiedlich: Einige ließen sich an Ort und Stelle zusammensacken und vergruben das Gesicht in den Händen; andere begannen zu lachen; zwei oder drei brachen in Tränen aus. Allen gemeinsam war, dass sie die leeren Plätze nicht anzusehen versuchten, an denen bis heute Nacht ihre sechs Kameraden gesessen hatten, die nun am Galgen hingen. Alfred Alfredsson blieb unschlüssig zwischen den Männern stehen und stapfte dann zu Samuel,als er sah, dass dieser durch die unordentliche Gruppe hindurchgegangen und an einer Fensteröffnung stehen geblieben war. Samuel wandte sich ihm zu, als habe er sein Kommen allein an seinem Schritt erkannt.
»Wer immer die Frau ist, sie hat uns den Arsch gerettet«, sagte Alfred nach einem langen Schweigen.
Samuel wandte sich wieder dem Fenster zu und sog tief die eisige Luft ein. »Wäre sie nur eher gekommen«, murmelte er.
Alfred nickte. »Es ist ’ne Schande, Rittmeister.«
Vor ihrem Quartier wurden Schritte laut. Die auf dem Boden sitzenden Männer blickten voller neu erwachter Furcht auf. Samuel spürte, wie eine kalte Hand in sein Innerstes griff. Das Fenster öffnete sich zu dem Teil der Stadt hin, den Königsmarcks Heer requiriert hatte, und während er hinausgesehen und die vielen kleinen Lichtpunkte vor den Quartieren des Militärlagers betrachtet hatte, hatte er sich gefragt, ob dort jetzt eine wütende Diskussion im Gange war. Dass Königsmarck die Hinrichtungsstätte verlassen und seinem überforderten Profos das Feld überlassen hatte, bedeutete nicht, dass sie nun begnadigt waren. Während das Stampfen der Stiefel dem Klirren von Eisenketten Platz machte, fragte er sich, ob auf dem Pergament, das die Unbekannte überbracht hatte, statt einer Begnadigung gar eine Strafverschärfung gestanden hatte. Gehängt sollen die Kerle werden? Das ist noch viel zu gut für sie! Bindet sie mit Eisenketten an ein Pferdegespann und schleift sie hinten nach, bis ihre Knochen auf dem Boden blank gerieben worden sind!
Er las in Alfreds Augen, dass diesem ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Gleich nachdem sich die Panik nach dem Tod des Königs und dem
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