Die Erbin der Teufelsbibel Historischer Roman
Wange lief bereits rot und blau an, aus seinen Nasenlöchern sickerte Blut, und sein Mund arbeitete, weil mindestens ein Zahn locker sein musste. Blinzelnd schlug er die Augen auf und schien Mühe zu haben, seinen Bruder zu erkennen.
Melchior wuchtete das letzte Pult beiseite und streckte ihm die Hand hin. Andreas zuckte zusammen und versuchte unwillkürlich, vor ihm zurückzuweichen. Melchior grunzte und bot ihm erneut die offene Hand an. Andreas’ Blick fand Melchiors, dann schlug er die Hand weg und drehte sich zur Seite, als wäre er für die Welt zu müde und als wäre nichts so öde wie der Anblick seines jüngeren Bruders.
3.
Wenzel stand in der Gasse vor dem Hausportal und kaute auf einer Karotte. Er hatte die anderen Brüder bereits vorgeschickt und betrachtete den Himmel. Das Portal öffnete sich, und Melchior stolperte heraus. Er sog die Luft ein wie jemand, der hundert Jahre lang den Atem angehalten hat. Als er Wenzel erblickte, stutzte er, dann zog er eine Grimasse, bückte sich, schaufelte eine Handvoll Schnee auf seine rechte Faust und kam zu ihm herüber. Wenzel tat so, als sehe er nicht, dass der Schnee in roten Klumpen von Melchiors Handrücken herunterfiel.
»Wir haben ein bisschen diskutiert, Andreas und ich …«, begann Melchior und deutete mit dem Daumen über die Schulter.
Wenzel nickte.
»Er ist völlig am Ende wegen Lýdie und so … du kannst es dir ja vorstellen … aber … äh … er hat gemeint, es sei wirklich ein Glück gewesen, dass du gekommen bist und Alexandra geholfen hast … und dass Mama Alexandra gebrachthat … Zuerst war er ja sauer, aber mittlerweile ist ihm klar geworden, dass nur sie Lýdie helfen konnte … ja … äh …«
»Mhm«, machte Wenzel.
Melchior schaute ins Leere. »Er ist ’n guter Kerl, und … äh … ich glaube, irgendwie ist er sogar froh, dass ich hier bin … ahem … der kleine Bruder und so, der dann doch ganz nützlich ist … jaja …«
»Mhm«, wiederholte Wenzel und brach ein Stück von der Karotte ab. Er reichte es Melchior. »Hier, nimm. Gibt ’ne gute Verdauung.«
Melchior griff nach dem Stück und nickte. »Mhm«, sagte er. Nach kurzem Zögern biss er ab und kaute darauf herum. Er nickte wieder. »Mhm.« Er warf Wenzel einen Seitenblick zu.
Wenzel sah in den Himmel und grinste.
Melchior grinste ebenfalls.
So nahmen sie voneinander Abschied, in der Gasse in Würzburg, unter dem ersten sonnigen Tag des neuen Jahres. Keiner von ihnen ahnte, unter welchen Bedingungen sie sich wiedersehen würden.
4.
»Ich hab was«, sagte Andrej und nestelte an dem Knoten, der einen Packen Papier zwischen zwei Holzdeckeln hielt.
Cyprian verließ seinen Platz am Fenster der Bibliothek und schlenderte zu Andrej hinüber. Er musste zugeben, dass er in den Tagen, in denen sie hier in Raigern waren, keine große Hilfe für Andrej dargestellt hatte. Er hatte eine Brieftaube nach Prag geschickt und eine zurückbekommen, aber auch nicht mehr erfahren als das, was die Mönche ihnen erzählt hatten: dass Agnes und Alexandra am Tag nach Nikolaus aufgebrochen waren, um Lýdie zu retten. Dass es sichhierbei um eines der Manöver seiner Frau handelte, ihre Tochter Alexandra aus der langjährigen Erstarrung zu lösen, die der Tod ihres Sohnes und ihres Ehemannes verursacht hatten, war Cyprian völlig klar. Er wusste sehr gut darüber Bescheid, wie seine Lieben dachten, und Andreas’ stummer Groll gegen seine Schwester Alexandra war ihm ebenso bewusst wie Agnes’ ständiges Unglück darüber, dass nicht mehr Harmonie zwischen ihren Kindern herrschte. Cyprian wäre nicht er selbst gewesen, hätte er nicht erkannt, was der Fehler war: Die Kinder hatten sich stets auf den zweiten Platz verdrängt gefühlt vor der bedingungslosen Liebe, die ihre Eltern füreinander empfanden; vielleicht sogar auf den dritten Platz, nach der Aufgabe, die mit dem Wächteramt über die Teufelsbibel die Familie heimgesucht hatte. Allein für sich hätte dies nicht zu der dauernden Spannung führen müssen. Doch dazu kamen Andreas’ fortwährende Angst, seinen Aufgaben als Leiter der Firma nur ungenügend nachzukommen; Alexandras stilles Leid über den Verlust ihrer Familie (und ihr verbissener Kampf gegen die Liebe, die eigentlich in ihrem Herzen war – man durfte Cyprian vieles unterstellen, nur nicht, dass er denen, die ihm etwas bedeuteten, nicht hätte ins Herz blicken können); sowie Melchiors Bemühen, sich selbst die innere Zerrissenheit seines großen Bruders und den
Weitere Kostenlose Bücher