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Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Die Erbin und ihr geliebter Verraeter

Titel: Die Erbin und ihr geliebter Verraeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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bitte.“
    Gleichzeitig schob sie der Frau das halbausgefüllte Telegramm und eine große Münze über den Tresen.
    Dann drehte sie sich wieder zu Dorling um. Hinter sich hörte sie metallische Knirschen und Rattern der Registerkasse sowie das Rascheln von Papier, als die Frau eine Tüte mit Bonbons zu füllen begann.
    Etwas vorzuspielen war so leicht.
    „Meine Tante“, sagte Jane, „ist ja so ermüdend. Sie hat mich heute Morgen schier wahnsinnig gemacht mit ihren Klagen. ‚Nein, Jane, zieh nicht diese Handschuhe an.‘ ‚Nein, Jane, rede nicht so viel. Niemand will etwas über Färben mit Anilin hören.‘“ Jane seufzte schwer und schaute nach unten. Sie hatte einen sauren Geschmack im Mund, als sie das Wort wahnsinnig gesagt hatte.
    „Wie unangebracht“, sagte Dorling. „Eine so liebenswürdige Frau wie Sie gegen sich aufzubringen. Sie muss wirklich unerträglich sein.“
    Die Frau hinter der Theke reichte Jane die Tüte Pfefferminzbonbons und eine Handvoll Wechselgeld.
    Würde sie das Telegramm so unvollständig, wie es war, überhaupt abschicken? Kam es darauf überhaupt an?
    Genau genommen, nein. Das Blatt hatte seine Schuldigkeit getan. Ob es ihn erreichte, ob er herkam … Jane hatte nicht länger das Gefühl, allein zu sein. Das verlieh ihr neue Zielstrebigkeit. Sie würde nicht zulassen, dass irgendwer ihre Schwester fortschaffte.
    Sie blickte Dorling an, der freundlich lächelte. Auch wenn sie eine Gänsehaut bekam, auch wenn sie heimgehen und sich von Kopf bis Fuß abschrubben wollte, um sich von dem Gedanken, wie er sie „überredete“ zu befreien, zwinkerte sie ihm kokett zu.
    „Meine Tante“, wiederholte sie, „macht mich wahnsinnig. Ich kann unmöglich noch eine Nacht im selben Haus wie sie verbringen.“
    „Können Sie nicht?“ Er erwiderte ihr Lächeln. Darin lag keine Zuneigung oder auch nur Freude. Es war, stellte sie sich vor, das Grinsen einer Katze, die eine Maus in die Ecke gedrängt hatte.
    „Es geht einfach nicht“, bekräftigte Jane.
    Glücklicherweise war sie keine Maus. Sie war eine reiche Erbin, und gute Mausefänger konnte man für ein paar Schilling kaufen.
    „Sie“, sagte Jane, „sind genau der Mann, den ich suche. Sie werden mir helfen.“

Kapitel 19

    O LIVER HATTE IN DER Z EIT zwischen dem Telegramm seiner Mutter und dem Zeitpunkt, als er seine Schwester nach Hause brachte, etwas verloren. Er fühlte sich, als ob er ständig seine Taschen kontrollieren müsste. Als sich darin die gewohnten Gegenstände fanden, blickte er auf seine Uhr.
    Aber es war keine vergessene Verabredung oder eine verlegte Geldbörse, die ihn an den folgenden Tagen quälten. Es war etwas Tieferes und Grundlegenderes.
    An einem schönen Maitag kehrte er nach einigen Vormittagsterminen nach Clermont House zurück und begab sich in seine Räumlichkeiten.
    Es war der gleiche Raum, den er bezogen hatte, als er einundzwanzig war – als sein Bruder volljährig geworden war und ihn das erste Mal nach London eingeladen hatte. Robert hatte zu ihm gesagt, er solle Clermont House als sein eigenes betrachten.
    „Du verstehst“, hatte der junge Herzog zu ihm gesagt, als Oliver etwas Abwehrendes murmelte, „dass ich das nicht als Analogie verstanden sehen will. Ich möchte nicht, dass du es so ansiehst, als wäre es deines . Es ist deines. Wenn die Umstände anders wären, wärst du hier aufgewachsen. Du bist mein Bruder, und ich werde nichts anderes gelten lassen.“
    Nach den ersten paar Monaten hatte Oliver aufgehört, sich wie ein Eindringling zu fühlen, und hatte zu glauben begonnen, dass er tatsächlich hierher gehörte. Er hatte aufgehört, sich zu entschuldigen, wenn er nach Dienstboten läutete. Er hatte angefangen sich zu verhalten, als habe er einen Platz in dieser Welt.
    Aber jetzt … jetzt sah er seine Umgebung mit neuen Augen.
    Er trat ans Fenster. Von dort aus blickte man auf den Platz vor dem Haus, rechteckig und gepflegt mit ein paar Bäumen und Büschen und mit einer Bank auf jeder Seite.
    Seine Mutter hatte auf dieser Bank gesessen, als sie noch mit Oliver schwanger gewesen war. Man hatte ihr den Zutritt zu Clermont House verwehrt, sie war vom damaligen Herzog ignoriert worden. Hugo Marshall – Olivers wirklicher Vater, der Mann, der ihn großgezogen hatte – hatte zu der Zeit hier gearbeitet, aber er war durch den Dienstboteneingang gegangen und gekommen.
    Es war gut und schön, wenn Robert sagte, dass Oliver einen Platz hier hatte, aber nichts, was einer von ihnen sagte

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