Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Oliver nicht anders. Dann war das Telegramm tatsächlich von ihr gewesen. Sie brauchte ihn. Er würde sie sehen. Der Gedanke erfüllte ihn mit elektrisierender Vorfreude. Er war nicht in sie verliebt. Er lächelte nur deswegen, weil er wusste, dass es sie freute, wenn man ihre Kleider unerhört fand.
Er war nicht in sie verliebt. Er würde gleich zu der Veranstaltung gehen, ohne sich die Zeit zu nehmen, seinen Koffer auszupacken. Daran war doch nichts falsch, oder?
Er fand Vorwand um Vorwand, während er sich umkleidete und überprüfte, ob er all die Sachen parat hatte, die man brauchte, wenn eine Frau in Gefahr schwebte – Geld und eine Pistole deckten das ab.
Er war nicht in sie verliebt. Er war nur vorsichtig.
Das sagte er sich immer wieder, während er sich auf der Gesellschaft in die Menschenmenge mischte. Er hielt nur nach ihr Ausschau – völlig normal, oder nicht? Dass er nach einer Frau Ausschau hielt, die zu sehen er Hunderte Meilen weit gereist war. Es war normal, dass sein Atem schwerer ging, dass die Sekunden ohne sie auf seinen Schultern zu lasten schienen.
Dann sah er sie. Die Türen öffneten sich, und sie trat ein. Sie trug ein Kleid, das sich an die Rundungen ihres Busens schmiegte und sich unter der Taille weitete. Es war grün – ein Grün, wie es ein Mönch verwendet haben mochte, um in einem Manuskript eine giftige Schlange zu zeichnen, die aus einem Apfelbaum von Versuchung flüsterte.
Jemand anders hätte die Goldfransen am Saum vielleicht geschmacklos gefunden. Andere wären angesichts der Farbe ihres Kleides oder wegen der glitzernden Goldknöpfe zusammengezuckt, die es zierten. Sie hätten am Ende auch mit Entsetzen ihren schauderhaften Kopfputz bestaunt.
Aber dies war Jane. Es war vier Monate her, dass Oliver sie zuletzt gesehen hatte. Sie war einfach wunderbar – von den juwelenbesetzten Seidenschuhen, die unter dem Saum ihres Kleids hervorlugten, bis zu den giftgrünen Federn, die in ihre Frisur gearbeitet waren. Jane. Seine Jane. Ihm stockte der Atem, und zum ersten Mal seit, wie es ihm schien, ewigen Zeiten hatte er das Gefühl, genau dort zu sein, wohin er gehörte. Hier, auf dieser Gesellschaft, die er nie besucht hätte, umgeben von Fremden.
Er hatte sich all die Monate selbst belogen.
Er liebte sie. Und er hatte keine Ahnung, was er deswegen unternehmen sollte.
Kapitel 20
„D AS K LEID IST EINFACH SCHEUßLICH “, sagte Tante Lily zum, wie es Jane vorkam, fünfzehnten Mal. „Willst du, dass alle denken, du seist eine …“ Sie machte eine Pause, aber da ein giftgrünes Kleid keine besondere Botschaft aussandte, konnte sie den Satz nicht beenden. „Versuchst du, dich absichtlich als Armleuchter hinzustellen?“
„Ein Armleuchter“, sagte Jane, „das klingt wie ein Leuchter, der Armen Licht spendet. Den kann ich sicher gut gebrauchen.“
Diese Bemerkung raubte ihrer Tante die Sprache. Sie starrte sie an, rümpfte die Nase und schniefte, schüttelte schließlich den Kopf. „Wie willst du jemals Dorling dazu bringen, sich zu erklären, wenn du dich so kleidest?“
Das würdigte Jane keiner Antwort. Sie weigerte sich, mit ihrer Tante über den Kerl zu reden. Stattdessen schaute sie blicklos auf die Kutschenwand. Dorling war zur Hälfte für ihre üble Lage verantwortlich, und ihr lag nichts an ihm. Wenn sie an Emily dachte – an das, was ihr Onkel tun könnte, was er bereits getan hatte –, dann begann sie, sich Sorgen zu machen.
Das Telegramm war vielleicht gar nicht gesendet worden. Und selbst wenn, dann war das, was sie, soweit sie sich erinnern konnte, mit fliegenden Fingern auf das Formular geschrieben hatte, bestenfalls unverständlich. Sie hatte Oliver nicht mitgeteilt, was sie brauchte, wann sie es brauchte, wo sie sich treffen konnten oder irgendeine andere entscheidende Information – wie beispielsweise ihren Namen. Oliver hatte sein Leben zu leben, Leute, an denen ihm lag, Sachen, die er erledigen musste. Er würde nicht einfach alles stehen und liegen lassen und unverzüglich kommen, nur weil er ein Telegramm erhalten hatte, das vielleicht von einer Frau stammte, die er am Ende schon längst vergessen hatte.
Vermutlich war er inzwischen verheiratet. Sein voreiliges Versprechen hatte er sicherlich schon lange hinter sich gelassen. Außerdem war keine Zeit mehr. Das Telegramm war kurz vor Mittag rausgegangen. Seitdem waren erst sieben Stunden vergangen, und ihr Plan war bereits in Bewegung gesetzt.
Himmel. Es würde heute Abend geschehen, ob
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