Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
werden Sie wieder in Nottingham sein, was uns vermutlich genug Zeit gibt.“ Oliver ging nach hinten und begann im Kutschkasten zu kramen. „Hier sind ein paar Decken, Wein und etwas zu essen, daher werden Sie es nicht zu ungemütlich haben.“
„Dazu können Sie mich nicht zwingen! Ich habe eine …“ Er begann mit seiner leeren Hand herumzufuchteln, dann starrte er sie an.
„Ja.“ Olivers Stimme kam von der Rückseite der Kutsche. „Ein kleiner Rat: Das nächste Mal, wenn Sie sich an einer Entführung versuchen, geben Sie nie und unter keinen Umständen Ihre Waffe aus der Hand, und bestimmt nicht an jemanden, den Sie nicht kennen.“
Jane lächelte breit.
„Das ist ja unerhört!“, rief Dorling. „Wer sind Sie, und was haben Sie mit meinem Kutscher gemacht?“
Oliver kam wieder zurück vom Kutschkasten und hatte einen Sattel dabei. „Jane, es tut mir leid, aber wir werden uns ein Pferd teilen müssen. Bist du dabei?“
Jane ertappte sich beim Lächeln. „Wie konntest du das wissen? Wie hast du das nur gemacht?“
„Ganz einfach“, erwiderte er. „Ich habe dir ja gesagt, du bist nicht allein. Dachtest du wirklich, ich würde dich im Stich lassen?“
Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie schüttelte nur den Kopf und schaute zu, wie er das Pferd sattelte. Es war das erste Mal, dass sie ihn körperliche Arbeit verrichten sah, und er tat das so rasch und geschickt, dass sie unwillkürlich daran erinnert wurde, dass er auf einem Hof aufgewachsen war. Er konnte politische Diskussionen führen, unmögliche Mädchen retten und mit der gleichen Mühelosigkeit ein Pferd satteln.
Sie hatte Monate lang über ihn nachgedacht. Darüber, was sie zu ihm gesagt hätte, wenn sie nur mutig genug gewesen wäre.
Sie würde es nicht länger ungesagt lassen.
„Wir haben nicht viel Zeit“, erklärte er, „aber es wird reichen.“ Er stieg auf und hielt Jane seine Hand hin. „Komm“, sagte er. „Lass uns gehen.“
„Warte“, bat sie. „Die Waffe, bitte.“
Er hielt sie ihr, ohne zu fragen, hin. Jane drehte sich um, und Dorlings Gesicht wurde bleich. „Bitte“, flehte er. „Nicht … Sie brauchen nicht …“
Jane verdrehte die Augen. „Lassen Sie das Gestammel. Ich will meine fünfhundert Pfund zurück.“
„Aber die bedeuten Ihnen doch nichts. Mir hingegen …“
„Ja“, sagte Jane. „Ich weiß, was sie für Sie bedeuten.“ Sie zielte mit der Pistole auf seine Stirn. „Darum will ich sie ja zurück.“
Z WEI L EUTE, BEIDE IN A BENDKLEIDUNG , konnten nicht bequem auf einem Pferd reiten. Oliver zog Jane zum etwa fünfzehnten Mal in den letzten paar Minuten enger an sich und versuchte, sich im Sattel hinter ihr anders hinzusetzen.
Janes Röcke flatterten in der Brise. Etwas Kantiges unter ihren Röcken bohrte sich in sein Bein. Und die Perlen, die auf ihr Kleid genäht waren, kratzten störend.
Trotzdem war es nicht wirklich schlimm. Schließlich war Jane warm und weich, und es war viel zu leicht, ihren Duft einzuatmen. Sie roch vertraut nach Seife.
Vor vierundzwanzig Stunden hatte er noch in einem bequemen Sessel in Clermont House gesessen und darüber nachgedacht, wie er am besten auf die Mitglieder des Parlaments, die er kannte, Einfluss nehmen konnte.
Jetzt befand er sich auf einem Pferd, der Himmel allein wusste, wie weit von der Zivilisation entfernt, zusammen mit einer reichen Erbin von zweifelhaftem Ruf und schmiedete Pläne, wie sie ein neunzehnjähriges Mädchen aus dem Haus ihres Vormunds entführen konnten. Es war, als habe er die Realität verlassen und sei mitten in eine Rittergeschichte aus dem Mittelalter geraten, wo er sich nun auf seinen Verstand und sein Schwert verlassen musste, um zu überleben.
Er hatte den Verlauf seines Lebens eigentlich schon vor Jahren geplant – ruhige Arbeit, dann irgendwann die Anerkennung und ein langsamer, aber stetiger Aufstieg zur Macht. In diesem Lebensplan war kein Raum für die lachhaft impulsiven Taten, die er heute begangen hatte: London binnen einer halben Stunde nach Erhalt der Nachricht verlassen, Jane finden, eine Entführungsabsicht aufdecken und einer ungünstigen Ausgangslage zum Trotz vereiteln.
Es wäre noch genug Zeit, zu Sinnen zu kommen. Er schloss seinen Arm kurz um Jane und dachte an den verwirrenden Augenblick, als er sie auf der Treppe entdeckt hatte.
Er hatte all die richtigen Gefühle. Er hatte damit gerechnet, sich eines Tages zu verlieben, nur nicht so. Nicht in sie. Er war in der falschen
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