Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
bin nur hier, um Ihre Nichte zu entführen. Kein Grund zur Sorge. Mit einer bin ich bereits auf und davon, sodass zwei mich kaum aufhalten werden.‘“
„Genau.“ Sie lächelte ihn an, und plötzlich schien ihm die Strecke zum Zimmer ihrer Schwester gar nicht so lang, noch die Möglichkeit, ertappt zu werden, so schmerzlich. Er stieg auf das Fenstersims im Erdgeschoss, benutzte es als Trittstein und schwang sich oben auf den Fensterrand.
Das Abflussrohr gab nach, und er verlagerte sein Gewicht, suchte anderen Halt auf den rutschigen Steinen. Er kletterte vorsichtig weiter, bis er die Hände aufs Fensterbrett legen konnte, das, wie Jane schwor, zum Zimmer ihrer Schwester gehörte.
Er klopfte leise an die Fensterscheibe und wartete.
Nichts. Er hörte nicht einmal das kleinste Geräusch aus dem Zimmer.
„Emily?“ Er wagte es nicht, lauter als flüsternd zu sprechen. Die Scheibe beschlug unter seinem Atem nur kurz. Er klopfte noch einmal, dieses Mal fester. „Miss Emily.“
„Sie schläft nie tief“, flüsterte Jane lauter von unten. „Und während ihrer Nachmittagsruhe schläft sie ohnehin nie.“
„Nun, ich kann niemanden sehen.“ Er klopfte nochmals gegen das Glas. „Emily“, versuchte er es ein wenig lauter.
Nichts.
Niemand. Er konnte von seiner Position aus das Bett sehen, und auch wenn es innen nicht sehr hell war, sah es doch so aus, als läge niemand auf dem Bett.
„Jane“, sagte er leise, „wann wollte dein Onkel deine Schwester fortbringen lassen?“
Er konnte hören, wie sie hastig den Atem einzog. „Nicht so schnell“, antwortete sie langsam, als müsse sie versuchen, sich selbst zu überzeugen. „Sicherlich nicht so schnell. Er würde erst sicher sein wollen, dass ich aus dem Weg geräumt bin, ehe er seinen Zug macht. Ich … ich bin mir da fast ganz sicher.“ Aber ihre Stimme wankte bei dem ‚fast‘, und er vermutete, sie war sich nicht ganz so sicher, wie sie es sein wollte.
Er hätte gedacht, es würde länger dauern. Aber er hatte sich auch vorher schon geirrt.
„Könnte sie für einen Nachmittagsspaziergang das Haus verlassen haben?“, fragte er.
„Nein, natürlich nicht. Titus lässt das nicht zu, und wenn sie allein hinausgeschlüpft wäre, hätte sie das Fenster einen Spaltbreit offengelassen.“ Oliver drückte probehalber gegen das Fenster, aber es war geschlossen, allerdings nicht von innen verriegelt. Es war ziemlich schwierig, es so zu fassen zu bekommen, dass er es ein paar Zoll hochschieben konnte. Das Fenster quietschte im Rahmen, aber schließlich gelang es ihm, es nach oben zu schieben.
„Sie ist wirklich nicht dort drin“, erstattete er Bericht. Er hatte sich bereits des Einbruchs schuldig gemacht, warum also nicht auch noch einsteigen? Jetzt aufzuhören war witzlos. Er stieg durch das Fenster.
„Sieh im Kleiderschrank nach“, rief Jane von unten. „Sieh nach, ob ihr Koffer da ist.“
Er durchquerte den Raum, bemühte sich, möglichst leise zu sein, in der Hoffnung, dass die Bodendielen nicht knarrten. Das taten sie nicht, aber die Tür zum Kleiderschrank quietschte leise, als er sie öffnete.
Es lagen ein paar Kleidungsstücke darin, wild durcheinander, aber kein Koffer. Oliver kehrte ans Fenster zurück. „Ist deine Schwester gewöhnlich ordnungsliebend?“
„Ja.“
„Weil jemand ihre Sache durcheinandergebracht hat. Ich würde sagen, es fehlt eine ganze Menge. Es gibt keinen Koffer, und die Sachen, die noch da sind, liegen durcheinander. Es sieht ganz so aus, als hätte jemand in aller Eile gepackt.
„Oje.“ Unten am Boden konnte er die Furcht in Janes Stimme hören. „Auf dem Schreibtisch … Steht da ein kleiner grüner Kaktus?“
„Nein.“
„Sie ist wirklich fort, Oliver. Was sollen wir nur tun?“
Er hatte ihre Schwester nie kennengelernt, aber er wäre außer sich vor Sorge gewesen, hätte sich eine seiner Schwestern in einer ähnlichen Lage befunden.
„In einer Stunde oder so“, sagte Jane gerade, „wird Dorling wieder in Nottingham eintreffen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Titus das Telegramm bekommt. Dann wird er wissen, dass ich verschwunden bin.“
Oliver schüttelte den Kopf. „Ich komme wieder hinunter. Und dann reden wir. Vernünftig. Erstens, wenn er wirklich deine Schwester schon fortgebracht haben sollte, ist es egal, was er über dich weiß. Die Strategie ändert sich.“
„Richtig.“ Sie nickte. „Richtig.“
Er begann, nach unten zu steigen.
Er konnte sie aus dem Augenwinkel auf und ab
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