Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
wenn es nur die Augen der paar Menschen waren, die sie gekannt hatten. Freddy war vielleicht der einzige Mensch, der erleichtert geseufzt hätte bei dem Gedanken, sechs Fuß unter der Erde in einer engen Holzkiste beerdigt zu sein. Als der Sarg im Grab versenkt und die Erde darüber geschüttet war, legte Oliver seine Blumen darauf.
„Du hast es geschafft“, sagte er leise. „Jetzt kann dir niemand mehr etwas tun.“
Nach der Beerdigung zogen sie sich mit dem Notar in die kleine Wohnung zurück.
Oliver hatte jedes Weihnachten, an das er sich erinnern konnte, hier verbracht. Es war eine Tradition gewesen, die aus der Not geboren war. Seine Mutter hatte nicht gewollt, dass Freddy Weihnachten allein verbrachte, und Freddy hatte sich geweigert, ihre Räume zu verlassen und nach New Shaling zu reisen. Daher war ihre gesamte Familie hergekommen – auch noch, als es viel zu eng wurde für sie alle.
Sie waren jetzt so viele, dass es nicht genug Sitzgelegenheiten für alle gab. Oliver und seine Schwestern, seine Nichte und Neffen, seine Eltern … Sein Vater stand an der Wand, Reuven saß mit seinen Jungs auf dem Boden.
In gewisser Weise war es eine Überraschung, dass Freddy überhaupt einen Notar hatte. Eigentlich hatte er nicht gedacht, dass Freddy ein Testament schreiben würde. Schließlich war es nicht so, als hätte Freddy viel zu vererben, und zu hören, wie ihre paar Habseligkeiten wie in einem Schnellverfahren abgehandelt wurden, schien ihm grausam.
„Dieses Testament“, erklärte der Notar, „datiert von letzter Woche.“ Er zog mehrere Blatt Papier hervor – viel mehr, als Oliver unter den gegebenen Umständen je für nötig gehalten hätte.
Aber so war Freddy. Bei der Präambel – eher weitschweifig und angriffslustig – wechselten sie alle Blicke, unsicher, ob es angemessen war, so bald nach ihrem Hinscheiden zu lächeln. Es klang so sehr nach ihr, dass man fast meinen konnte, sie sei da. Etwa eine Seite lang beschrieb sie, was sie von einem jeden von ihnen erwartete – das Erbe, das sie hochhalten würden, die Erwartungen, die sie an alle hatte.
Dann räusperte sich der Notar und begann mit dem eigentlichen Nachlass.
Seine Tante vermachte ihrer Schwester Serena Marshall ein paar Familienerbstücke und eine Miniatur ihrer Mutter.
„Oliver, meinem Neffen – ich würde dir einen Teil meiner weltlichen Güter hinterlassen, aber ich glaube nicht, dass du sie brauchst. Daher sollst du lieber die paar Quilts erben, die ich für mich behalten habe. Sie sind wesentlich besser als alles, was man derzeit in den Geschäften kaufen kann, an ihnen ist kein einziger Stich maschinell. Hüte dich vor Verkühlung. Wenn du älter wirst, wirst du feststellen, dass Kälte dir stärker zusetzt.“
Er spürte einen Kloß in seiner Kehle. Freddy hatte so viel von ihrer Zeit und Energie in ihre Quilts gesteckt, dass das so war, als bekäme er ein Stück von ihr als Erinnerung.
„Laura und Patricia erhalten zu gleichen Teilen den Rest des Geldes, das ich als Kind geerbt habe. Ebenso vermache ich ihnen den Rest meines Haushaltes, dass sie ihn unter sich aufteilen. Besonders ans Herz legen möchte ich Ihnen folgende Gegenstände: mein Pariermesser, das nur ganz selten geschärft werden muss, den Schrank samt Inhalt, den ich in den letzten Jahrzehnten verwendet habe, und das gute Porzellan.“
Laura schaute Patricia an.
„Das kann nicht stimmen“, erklärte Laura schließlich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Freddys Bankeinlagen einen großen Wert darstellen, aber so wird alles, was sie besessen hat, verteilt, ohne dass …“
Sie sahen beide zu Free, die mit gesenktem Blick auf ihrem Stuhl saß. Oliver litt mit ihr. Für Freddy, für den Streit, nach dem sie sich nicht wieder versöhnt hatten und der dafür gesorgt hatte, dass seine Tante seine Schwester aus ihrem Testament gestrichen hatte.
„Wir haben uns gestritten“, sagte Free leise. „Und ich will nicht … darum geht es nicht.“
Nein. Es ging nicht um das Erbe an sich. Es ging darum zu wissen, dass ihr nicht verziehen worden war.
„Nein“, erklärte Patricia. „Es ist doch ganz einfach. Wir werden alles gerecht unter uns dreien aufteilen. Ich bin mir sicher, Tante Freddy würde das so wollen. Dass sie sich genau jetzt wünscht, sie hätte es von Anfang an so getan.“
Der Notar rückte seine Brille zurecht und schaute die beiden an. „Aber es gibt einen Absatz im Testament für Miss Frederica Marshall.“
Alle schauten auf. Laura
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