Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: „Ich habe keine Ahnung, was das noch sein soll.“
„Abschließend komme ich zu Frederica Marshall, meinem Patenkind und meiner Nichte, die meinen Namen trägt, und zudem Geißel meines Daseins war. Vor mehreren Jahren war sie, wie ihr sicher alle wisst, so frech, darauf zu bestehen, dass ich meine Wohnung verlasse – dass ich in die Welt hinausgehe und ein Abenteuer erlebe, selbst wenn es nur ein so wenig aufregendes ist, wie mir einen Apfel zu kaufen. Nachdem sie gegangen war, habe ich das versucht.“
Free atmete stockend ein, es klang fast wie ein Schluchzer.
„Ich musste feststellen, dass ich meine Wohnung nicht verlassen konnte“, las der Notar vor. „Aus irgendeinem Grund passte ich nicht durch die Tür. Aber ich habe mein Bestes gegeben, das wettzumachen, und daher vermache ich die Einnahmen aus meinem großartigen Abenteuer Miss Frederica Marshall. Ich vermute, sie wird sie besser zu nutzen wissen als ich.“
Free schaute auf. „Einnahmen?“, fragte sie leise. „Von welchen Einnahmen redet sie da?“
„Die Einnahmen aus Miss Bartons Erbe“, sagte der Notar. „Das sind die Tantiemen von fünfundzwanzig bislang veröffentlichten Romanen, ohne die vier weiteren, die in Kürze erscheinen werden.“
Frederica blinzelte verwirrt. „ Fünfundzwanzig Romane?“, wiederholte sie ungläubig.
Oliver verspürte einen plötzlichen stichartigen Schmerz. Er wusste, welche Autorin in rascher Folge fünfundzwanzig Romane geschrieben hatte. Vergangenen Januar waren es dreiundzwanzig gewesen, aber … Seine Schwester ging zur Truhe ihrer Tante, öffnete den Deckel und griff hinein.
Es gab jede Menge Papierbündel darin, die alle in der kritzeligen Handschrift ihrer Tante beschrieben waren. Sie nahm eines und setzte sich an den Tisch.
Oliver wusste – er wusste mit absoluter Sicherheit –, was er auf den Seiten sehen würde.
„Mrs. Larriger und die walisische Brigade“, las Free laut. Sie nahm ein weiteres Bündel heraus. „Mrs. Larriger und die französische Comtesse. Mrs. Larriger geht nach Irland.“ Ihre Stimme stockte. „Wer ist Mrs. Larriger?“
Oliver wusste es. Wenn seine Schwester die Papiere lang genug durchsah, würde Mrs. Larriger ihren Weg auch noch nach China finden, nach Indien, über die Weltmeere. Er erinnerte sich, dass er sich mit Jane über die Bücher lustig gemacht hatte, darüber gelacht, dass die Autorin garantiert nie weiter als bis Portsmouth gekommen war.
Aber da irrte er. Die Verfasserin war nicht einmal soweit gekommen. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens auf kaum mehr als dreißig Quadratmetern gelebt. Aber sie hatte so viel Abenteuer in sich verborgen getragen. Es war nahezu unmöglich, die Enormität von Tante Freddys Geheimnis zu fassen. Mrs. Larriger hatte die Welt bereist – mit Indianern Friedenspfeife geraucht, sich mit Pinguinen angefreundet und war von Walfängern entführt worden, nur um am Ende ihre Freiheit wiederzugewinnen.
Während Freddy in dem winzigen Zimmer hier saß, die Tür beobachtete und hoffte, dass sie morgen imstande wäre, die Wohnung zu verlassen.
Vielleicht war ihr das ja auf gewisse Weise gelungen.
E S WAR EINE kurze Liste.
Jane hatte einen ganzen Stoß Papier genommen – wunderschönes teures cremefarbenes Papier – und dafür gesorgt, dass ihr Tintenfass voll war.
Sie hatte vor, die Seite mit ihren Plänen zu füllen. Am Ende jedoch war die Liste, die sie aufgeschrieben hatte, erschreckend kurz.
Was ich als Nächstes tun werde , hatte sie sie überschrieben.
Eine Sache stand nicht auf der Liste: Jane hatte nicht vor, sich noch einmal der schmerzhaften Erfahrung auszusetzen, die es für sie bedeutete, sich in Gesellschaft zu bewegen. Sich dem Urteil anderer auszusetzen, gewogen und für zu leicht befunden zu werden. Bälle und Abendgesellschaften klangen vielleicht in der Theorie interessant, aber in Wahrheit waren sie ermüdend und brachen ihr das Herz. Stattdessen waren ihre Pläne ganz schlicht.
Gutes tun.
Freunde finden.
Die Freunde behalten, die ich bereits habe.
Nach einem langen Moment des Überlegens fügte sie einen letzten Punkt hinzu:
Beweisen, dass Oliver sich irrt.
Es gehörte auf ihre Liste. Aber erst als Viertes, entschied sie – er verdiente nicht mehr Bedeutung in ihrem zukünftigen Leben –, aber es gehörte darauf. Für den Augenblick jedoch …
Es tat immer noch weh. Sie litt echte Schmerzen. Sie hatte den Nachmittag mit ihrer Schwester verbracht,
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