Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Damen wandten ihre Köpfe. Niemand keuchte – das Kleid, das sie trug, war schlimmer. Selbst Oliver musste bewusst den Mund schließen. Schweigen senkte sich über den Raum, ein aktives, elektrisch geladenes Schweigen, die Stille zwischen Blitz und Donnergrollen.
Gegen den Schnitt ihres Kleides gab es nichts einzuwenden. Eher bescheiden, was die Verzierung mit Spitze betraf. Es hatte auch nicht mehr Muster als ein paar zarte gestickte Ranken am Saum. Aber abgesehen von diesen gewundenen grünen Linien war es leuchtend rosa wie … wie …
Oliver wollte kein Vergleich einfallen. Es war kein leuchtendes Rosa von irgendetwas. Es war ein zorniger Rosaton, der von der Natur so nie vorgesehen gewesen war. Es war ein Rosa, das der Vorstellung von sittsamen Pastelltönen Gewalt antat. Es schrie nicht nach Aufmerksamkeit, es trat auf einen zu und schlug einem auf den Kopf.
Er bekam davon Kopfschmerzen, von diesem Rosa, aber er konnte einfach nicht den Blick davon wenden.
Der Raum war klein genug, dass er die ersten Begrüßungsworte verstehen konnte. „Miss Fairfield“, sagte eine Frau. „Ihr Kleid ist … sehr rosa. Und Rosa ist eine so … reizende Farbe, nicht wahr?“ Bei den letzten Worten schwang ein wehmütiger Ton in der Stimme der Sprecherin mit, als trauerte sie um das echte Rosa.
„Ist es nicht schön?“ Miss Fairfield sprach laut genug, dass alle ihre Erwiderung verstehen konnten. „Ich habe Miss Genevieve gefragt, und sie sagte, Rosa sei immer angemessen für eine Debütantin.“
„Nun“, bemerkte die andere Frau, „auf jeden Fall gibt es eine Menge Rosa an dem Kleid.“
„Ja“, pflichtete ihr Miss Fairfield fröhlich bei. „Das finde ich auch.“
Jeder im Raum schaute sie an. Buchstäblich jeder – es gab nicht einen hier, der anders gekonnt hätte, als ihr Kleid anzustarren.
Es wäre erträglich gewesen, wenn es nicht solche Mengen von dem Stoff wären, aber die Näherin hatte nicht gegeizt. Es waren nicht nur das rosa Oberteil und die rosa Röcke, sondern auch die ausladende rosa Schleife – ganz in Rosa ohne irgendwelche Ranken – die gebunden und dann mit Draht verstärkt worden war, sodass sie abstand. Es gab üppige rosa Rüschen, die mit augentränender rosa Spitze besetzt waren.
So viel grell rosa Stoff. Und er schimmerte.
Sie lächelte strahlend, als sei sie stolz auf die Kreation und merke nichts von dem höhnischen Kichern um sie herum.
Oliver hatte einmal gesehen, wie ein Mann eine Zitrone aß. Ihm selbst hatte sich der ganze Mund zusammengezogen, und er hatte wegsehen müssen. So fühlte er sich jetzt, als er ihr Kleid anschaute. Sie hielt sich kein bisschen zurück. Sie trug ihr viel zu schrilles Kleid und sprach mit zu lauter Stimme und verzog keine Miene, während alle anderen sie anstarrten.
Sie war auf dem Weg zum Scheiterhaufen, und es war ihr egal. Sie ging durch den Raum, grüßte Bekannte. Hinter ihr machte ein Gentleman eine unhöfliche Geste – ein Wedeln der Hand, das in keiner Weise angemessen für einen Ballsaal war –, und das Gelächter, das er damit auslöste, hatte einen hässlichen Unterton.
Miss Fairfield lächelte, als habe sie etwas Großartiges vollbracht.
Nein, sie befand sich nicht nur einfach auf dem Weg zum Scheiterhaufen. Sie stand schon in Flammen. Sie lächelte und lachte, und es war ihr herzlich egal, was die anderen von ihr hielten. Es war so schmerzlich mitanzusehen, wie damals bei dem Mann mit der Zitrone, der die Frucht erst lässig geschält hatte und dann ein Stück nach dem anderen verzehrt hatte, als sei alles in bester Ordnung. Oliver versuchte sich zu sagen, dass er ihr nicht wehtun wollte, dass er nicht zu der Sorte Mann gehörte. Aber in diesem Moment beherrschte ihn der Wunsch, sie so weit von sich wegzustoßen, dass er das hier nicht mit ansehen müsste, niemals wieder dieses leise spöttische Lachen hören müsste.
Er erinnerte sich daran, wie es war, ausgelacht zu werden. Er erinnerte sich noch viel zu gut daran, und er erinnerte sich auch, was danach kam. Sie würden ihn nachher finden, verspotten, eine Gruppe von ihnen, während er allein war …
Nein. Er konnte das nicht mitansehen. Er wandte sich ab.
Aber es half nicht. Er konnte sie immer noch hören.
Sie begrüßte die Gastgeberin fröhlich. „Mrs. Gedwin“, sagte sie mit weithin tragender Stimme, „ich bin ja so entzückt, hier sein zu dürfen. Und was für einen wunderschönen Kronleuchter Sie haben. Ich möchte wetten, er sähe wie neu aus, wenn er frisch
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