Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Stattdessen schüttelte er weiter den Kopf, als habe er bei Jane das Ende seines schier endlosen Langmutes erreicht.
„Jane, du hast den guten Arzt bestochen, die Unwahrheit zu sagen“, erklärte ihr Onkel geduldig und hielt dabei mahnend einen Finger hoch. „Du hast deine Schwester überredet, Lügen über unsere Gebetspraktiken zu erzählen, wo ich doch mein Möglichstes getan habe, euch beide als gute Christinnen aufzuziehen.“ Er hob einen weiteren Finger. „Du hast ihn unterbrochen und vertrieben, bevor er die Gelegenheit hatte zu prüfen, welche Wirkung seine Behandlungsmethode auf Emily hat. Die Methode, die er mir dargelegt hat, war sinnvoll.“
„Es war Quacksalberei“, erwiderte Jane. „Er hat sie elektrischen Schlägen ausgesetzt, Onkel, und er hatte vor, es mehrmals zu wiederholen, einfach, um zu sehen, was es bei ihr bewirken würde.“
Sie hätte das nicht sagen dürfen, sie hätte ihm nicht widersprechen dürfen. Aber dieses Mal machte er ihr wegen ihrer Aufsässigkeit keine Vorhaltungen. Er schüttelte nur betrübt den Kopf. „Und das ist noch nicht einmal alles. Selbst ich, der ich so abgeschnitten vom gesellschaftlichen Trubel lebe, habe Geschichten über dein Benehmen gehört.“
Nur Titus würde auf die Idee kommen, die lauwarmen Dinnergesellschaften, die in Cambridge stattfanden, als „gesellschaftlichen Trubel“ zu bezeichnen. Die meisten Veranstaltungen in Cambridge waren für junge Damen ungeeignet, da sie dort auf junge Männer treffen würden, die zum ersten Mal in ihrem Leben so taten, als seien sie erwachsen.
Titus hatte Anlagekapital, das ihm ein Einkommen von ein paar Tausend Pfund im Jahr sicherte. Aus diesem Grund hatte er nie Geld verdienen müssen und sich daher auch nicht darum bemüht, eine Anstellung zu finden. Er hatte seine Zeit in Cambridge so genossen, dass er irgendwie einfach da geblieben war. Er bezeichnete sich als Tutor. „Ein Tutor für die richtige Sorte Jungen“, erklärte er immer jovial.
Er hatte dieses Jahr nur einen solchen Schüler, und Jane vermutete, so war es ihm am liebsten. Er besuchte Vorträge, war halbherzig auf der Suche nach Studenten, die seine Hilfe bei der Vorbereitung auf das Jura-Tripos benötigten, und hielt sich ganz allgemein für wichtiger, als er war.
„Warum eigentlich“, fragte er, „bist du so unbeliebt?“
Die Worte trafen sie. Auch wenn es ein Ruf war, den sie fleißig aufgebaut hatte. Jane zuckte zusammen.
„Meine Informationsquelle sagt nicht, dass dein Verhalten unsittlich sei“, stellte ihr Onkel fest, „und dafür bin ich dankbar. Aber es gibt unsittliches Verhalten und Verhalten, das inakzeptabel ist. Nach allem was ich höre, fällt deines in letztere Kategorie.“
Die Ungerechtigkeit schmerzte.
„Eine Frau, die vernünftig denkt“, fuhr ihr Onkel fort, „beleidigt niemals einen Gentleman. Sie spricht nicht, wenn über ihr Stehende sich unterhalten. Sie isst nur wenig, und das immer mit geschlossenem Mund. Sie weiß stets, welche Gabel sie benutzen muss. Sie nimmt niemals ihre Hände zu Hilfe, außer, wenn es angemessen ist.“
„Angemessen!“, rief Jane. „Wie soll ich wissen, was angemessen ist? Jedes andere junge Mädchen hat praktisch von Geburt an eine Gouvernante. Viele von ihnen besuchen Pensionate. Die anderen lernen alles von ihren Tanten und Müttern – irgendjemandem, der bereit ist, ihnen in den Jahren, die das dauert, alle Regeln beizubringen. Wie man einen Knicks macht und vor wem. Wie man speist. Wie man mit anderen redet.“
Sie holte zitternd Luft, aber das half nicht gegen den Schmerz. Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair.
„Mein Vater“, sprach sie weiter, „hat seine Frau und seine Töchter neunzehn Jahre lang aus seinem Leben verbannt. Meine Mutter ist gestorben, als ich zehn war. Die neun Jahre danach habe ich auf einen abgelegenen Landsitz gelebt und meinen Vater angefleht, irgendetwas mit mir zu tun. Ich hatte keine Gouvernante. Ich habe keine Regeln gelernt.“ Ihre Stimme bebte. „Und dann haben Sie mich geerbt und beschlossen, ich müsste verheiratet werden. Was, dachten Sie, würde geschehen, als Sie mich ohne jegliche Erfahrung ins kalte Wasser der guten Gesellschaft geworfen haben?“
„Eine wahre Dame“, sagte Titus gespreizt, „hätte es gewusst …“
„Nein, hätte sie nicht. Sonst gäbe es nämlich keine Mädchenpensionate. Kinder kommen nicht mit dem angeborenen Wissen auf die Welt, welche Themen für Gespräche nicht erlaubt sind.“
Er
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