Die Erbin und ihr geliebter Verraeter
Hugo Marshall mein Vater ist. Das ist seltsam, weil er für mich nie etwas anderes gewesen ist. Einfach … Vater. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, dass meine Schwestern, die sein Fleisch und Blut sind, ihm wichtiger waren, als ich es bin. Den größten Teil meiner Kindheit über habe ich gar nicht begriffen, wie außergewöhnlich das ist. Es war einfach so.“
Sie verspürte einen Anflug von Eifersucht, als sie das hörte, und bei dem Gedanken, eine echte Familie zu haben, zog sich ihr Herz vor Schmerz zusammen.
„Wie war es?“, fragte sie leise.
„Er hat mir beigebracht, wie man angelt, wie man eine Kaninchenfalle auslegt, wie man fair kämpft und auch, wie man gewinnt, indem man schmutzige Tricks anwendet. Wenn es nötig ist.“ Mr. Marshall holte tief Luft. „Er hat mich gelehrt, wie man die Bücher führt und wie man aus einem Stück Papier eine Schachtel faltet. Er hat mir gezeigt, wie man auf einem Grashalm pfeift. Mein Vater hat mir alles beigebracht. Ich nenne ihn Vater, weil er das ist. In jedem Sinn des Wortes, außer einer unbedeutenden Kleinigkeit.“
„Also waren Sie Teil der Familie?“
„Oh ja, ich bin bei ihnen aufgewachsen. Sie haben einen kleinen Hof. Und das führt mich wieder zum Ausgangspunkt zurück. Meine Eltern waren nie reich. Sie hatten immer genug zum Leben. Meine Mutter und mein Vater sind beide sehr klug. Zweimal im Jahr mieten sie Maschinen in einer Fabrik, destillieren Öle und stellen daraus Seife her. Keine großen Seifenstücke für die Masse, sondern duftende, geformte Seifen für feine Damen. Meine Mutter verpackt sie sorgefältig und verlangt dann das Zwanzigfache des Herstellungspreises.“ Er lächelte und schaute sie an. „Sie verwenden sie, glaube ich. ‚Lady Serenas Geheimnis’.“
Das stimmte. Sie fand die Schachteln in den vielen zarten Pastellfarben schön. Die Seifenstücke waren in Seidenpapier gewickelt und enthielten kleine Zettel mit Erläuterungen zu der Duftnote. Es gab verschiedene Düfte für jeden Monat des Jahres, die dem Wechsel der Jahreszeiten folgten. Sie zahlte fünfmal so viel für diese kleinen, fein duftenden Seifenstücke, als sie normalerweise ausgeben würde. Aber das Auspacken bereitete ihr Vergnügen, sodass sie es als gut angelegtes Geld betrachtete.
„Meine Eltern haben ein gutes Auskommen“, fuhr Mr. Marshall fort. „Aber ich habe drei Schwestern, von denen zwei vor Kurzem geheiratet haben, und sie brauchten Geld, um in ihrem neuen Leben Fuß zu fassen. Dann war da noch mein eigener Schulbesuch samt Ausbildung. Obwohl der gegenwärtige Duke of Clermont – mein Bruder – mir Geld überschrieben hat, als ich volljährig wurde, weigern sie sich aus Prinzip, etwas von ihm anzunehmen.“
„Versuchen Sie mir zu sagen, dass Ihre Familie arm ist?“, fragte sie.
„Nein, überhaupt nicht.“ Er schluckte und schaute weg. „Obwohl … ja, ich denke, Sie würden das so sehen. Ich will Ihnen sagen, dass mein Vater Pachtbauer in einem Grafschaftswahlkreis ist. Er zahlt eine jährliche Pacht von vierzig Pfund.“
Sie schüttelte den Kopf, begriff nicht, was das heißen sollte.
„Ich habe meinen Vater angebetet. Ich dachte immer, er könne alles“, erklärte er ihr. „So ist das, wenn einem jemand alles beibringt. Und dann, als ich sechzehn war, habe ich erfahren, dass das nicht stimmte.“
Sie drückte seinen Arm. „Jeder Mensch ist fehlbar. Selbst die besten.“
„Nein, ich meinte nicht, dass ich herausgefunden hätte, dass er Fehler hat. Ich meinte, was ich gesagt habe. Es gibt eine Sache, die mein Vater nicht tun kann.“
Sie wartete auf seine Erklärung.
„Er darf nicht wählen.“
Sie schaute ihn überrascht aus großen Augen an. „Das ist … das ist …“
„Stellen Sie sich vor“, fuhr er in angespanntem Ton fort, „dass es jemanden gibt, der Ihnen nichts schuldete, aber alles gegeben hat. Eine Familie. Einen Platz in der Welt. Liebe. Stellen Sie sich vor, dass die ganze Welt um Sie herum sagt, er sei nichts wert. Was würden Sie für ihn tun?“
„Für sie“, flüsterte Jane unwillkürlich. Sie nahm ihre Hand von seinem Ärmel und schlang sich die Arme um die Mitte. „Wenn man fast niemanden hat … Für sie würde ich alles tun.“ Sie schwieg einen Moment länger. „Ist es das, was Bradenton Ihnen versprochen hat? Eine Stimme bei der Abstimmung über die Reform?“
Er nickte. „Mehr als das. Nicht nur die Stimme, sondern die Anerkennung, dass ich ihn überzeugt und umgestimmt habe. Er ist der
Weitere Kostenlose Bücher