Die Erbsünde
Schwesterchen.«
Philip verweilte noch, und Deon hoffte, er würde gehen, denn er wollte zurück ins Krankenzimmer, um seinem Vater beizustehen, falls er bei der Blutentnahme aufwachte. Gewiß, es war nur ein kleiner Nadelstich, aber eins kam zum andern, und jedes bißchen, das er erdulden mußte, wuchs zu einer Mauer, die die Lebenden von den Toten trennt. Doch als Philip sich zum Gehen anschickte, versuchte er, ihn zurückzuhalten, denn er wollte nicht in das Zimmer, wollte die unübersteigbare Wand nicht erklettern müssen. Heftig sagte er: »Nein, geh noch nicht!«, so heftig, daß Philip ihn überrascht ansah.
Wortlos schauten sie weiter zu dem emsigen Reiniger hinüber.
Der blonde Arzt trat wieder aus dem Zimmer. Er hielt die Blutprobe triumphierend hoch wie ein Banner und lächelte Deon beruhigend zu. »Habe ihn nicht geweckt!« Er reichte der Schwester das Röhrchen. »Bitte, sagen Sie dem Wärter, er möchte das ins Labor bringen.«
»Ich nehme es mit«, bot Philip sich unerwartet an. »Ich war sowieso auf dem Weg zum Hämatologie-Labor.« Er nahm das Röhrchen entgegen und warf einen Blick auf das Etikett. ›Johan Van der Riet‹ und die Stationsbezeichnung. »Ich bring' es gleich hin.« Schon im Gehen, wandte er sich um. »Richte ihm meine Grüße aus, Deon.«
»Danke, werd' ich machen.« Deon ließ den Arzt und die Schwester ohne ein Wort stehen und ging zu seinem Vater hinein. Er mußte es packen. Er mußte die Wand versuchen. Sein Vater hatte noch immer die Augen geschlossen, aber sein Atem ging schneller.
Deon beugte sich über den ausgezehrten Körper.
Warum erfüllt mich all das mit solchem Abscheu? fragte er sich. Warum würde ich am liebsten weglaufen, mich verstecken, betrinken, alles, nur um den Gedanken auszulöschen, daß er im Sterben liegt?
Gewiß: er ist mein Vater, und die Blutsbande sind stark. Aber wir standen uns nie besonders nah. Er hielt immer einen gewissen Abstand, mit dem Ergebnis, daß zwischen uns eine Wand wuchs, so unsichtbar und doch undurchdringlich wie diese letzte, die uns jetzt trennt, weil er sterben muß und ich weiterleben darf.
Weshalb will ich dann davonlaufen?
Vielleicht, weil er immer da war. Wenn er geht, kann nichts je von Dauer sein. Wenn er geht, setzt die Ernüchterung ein. Ich werde allein mit dem grauen Fremden in dem Korridor sein.
Deon setzte sich auf den steiflehnigen, weißlackierten Stuhl. Er quietschte ein wenig unter ihm. Sein Vater öffnete die Augen und blickte ihn spöttisch an.
»Wie fühlst du dich?« fühlte Deon sich verpflichtet zu fragen.
Ein flackerndes Lächeln entblößte blutiges Zahnfleisch. Ironisch sagte er: »Prächtig, mein Sohn.«
Deon stand auf. Er ging ums Fußende des Bettes und studierte mit gespielter Konzentration die Fieberkurve.
»Es war jemand im Zimmer«, sagte sein Vater.
»Ja. Ein Arzt und die Schwester haben dir eine kleine Blutprobe entnommen«, erklärte Deon.
Der alte Mann schüttelte unwillig den Kopf. Die Geste schien ihn zu ermüden, denn er schloß ermattet die Augen, »Davor.«
»Ach so. Natürlich. Das war Philip.«
»Philip?«
»Flip«, berichtigte Deon sich, »Flip Davids von der Farm, erinnerst du dich? Der Sohn von der alten Mieta Davids.«
»Flip«, sagte sein Vater mit geschlossenen Augen.
»Er läßt dir herzliche Grüße ausrichten.«
Sein Vater nickte nur und schlief sofort wieder ein. Jedenfalls sagte er nichts mehr.
Deon sah auf seine Uhr. Zum Glück war er vor drei Monaten einem chirurgischen Team zugeteilt worden, da konnte er es manchmal einrichten, zwischen den Operationen ein paar Minuten mit seinem Vater zu verbringen. Diese Woche hatte er Nachtdienst, und bis jetzt war es verhältnismäßig still gewesen.
Trotzdem, dachte er voller Unmut, ich sollte die Last nicht allein tragen müssen. Aber sein Groll verflog bei dem Gedanken daran, wieviel verlassener und isolierter Boet und Liselle jetzt waren: Boet in seiner Gefängniszelle am Anfang einer dreijährigen Freiheitsstrafe, und Liselle allein auf der Farm, eisern bemüht, sie über Wasser zu halten. Ihre Eltern kamen jedes Wochenende, und ihre nörgelnden Besuche stellten ein weiteres unnötiges Problem dar.
Liselle hatte Deon in den Monaten nach Boets Verhaftung und Prozess Respekt eingeflößt. Ihr Vater war ein fetter, spießiger Krämer und ihre Mutter ein scharfzüngiger Drachen, aber von irgendeinem ihrer Vorfahren mußte sie Rückgrat geerbt haben. Wenn sie überhaupt geweint hatte, mußte sie es im stillen
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