Die Erfinder des guten Geschmacks
bestellt und abgeerntet werden und die Lebensmittelindustrie unter Arbeitskräftemangel leidet, können Aufstände ausbrechen, das Volk kann sich von den Herrschenden abwenden. Das wussten selbstverständlich auch die Nazis, als sie am 27. August 1939,vier Tage vor Kriegsbeginn, vorsorglich erstmals Lebensmittelkarten ausgaben. Im Laufe des Krieges spezialisierten sich die Bezugsscheine, es gab zum Beispiel Reichsfett- und Reichsbrotkarten und verschiedene Berechtigte wie werdende Mütter oder Schwerarbeiter, denn die Versorgungslage verschärfte sich. So erhielt ein Erwachsener 1945 pro Woche etwa 125 Gramm Fett, 250 Gramm Fleisch, 1700 Gramm Brot. Zu Kriegsanfang waren es noch mehr als doppelt so viel Fleisch und Fett sowie 2400 Gramm Brot.
Hermann Göring versprach früh »Kanonen statt Butter« – und hielt Wort. »Eine ein wenig unpopuläre Maßnahme, so scheint es auf den ersten Blick«, hieß es dazu im Völkischen Beobachter am 21. März 1939. »Aber nur auf den ersten […] Ganz abgesehen davon ist diese Maßnahme, die zur Kontingentierung des Fettverbrauches führt, durchaus nicht unpopulär, sondern sozialistisch im reinsten Sinne des Wortes und daher volkstümlich wie kaum eine andere Regierungsanordnung sonst!«
Die allgemeine Bezugsscheinpflicht folgte am 28. August 1939 und galt für viele Lebensmittel, Seife, Kohle, Textilien und Schuhwaren. Folgende Mengen durften pro Kopf bezogen werden:
Fleisch und Fleischwaren: 700 Gramm pro Woche
Milcherzeugnisse, Öle, Fette: 60 Gramm pro Tag
Zucker: 280 Gramm pro Woche
Marmelade: 110 Gramm pro Woche
Graupen, Grütze, Grieß, Sago, sonstige Nährmittel: 150 Gramm pro Woche
Kaffee und Kaffeeersatz: 63 Gramm pro Woche
Tee: 20 Gramm pro Monat
Milch: 0,2 Liter pro Tag
An fester Nahrung, also ohne Tee, Kaffee und Milch, entspricht das einer Tagesration von weniger als 240 Gramm. Damals war dies eine halbe Friedensration, nach heutigen Maßstäben ist es nicht einmal ein reichliches Mittagessen.
Brot, Roggen- und Weizenmehl konnten weiterhin frei verkauft werden. Vorsorglich waren jedoch auch die frühen Bezugsscheine bereits mit Abschnitten für Brot, Kartoffeln, Mehl und anderen Lebensmitteln bedruckt.
Die »Seite der Hausfrau« der Wiener Illustrierten empfahl daraufhin »dicke Kartoffelsuppe« und »heißes Käsebrötchen«. Offiziell gepriesen wurden Kartoffeln, Quark, Sauermilchkäse, Trockenmilch, Nordseefisch und Sago, notfalls auch in Rüttelreimen:
»Frau Garnichtfaul weiß ganz genau:
Der Mensch braucht Eiweiß zum Gedeihn.
Drum kauft sie als vernunft’ge Frau
Stets Quark und Sauerkäse ein.
Auch Trockenmilch benutzt sie viel.
Herr Roderich strahlt vor Vergnügen,
so spart sie und kommt doch zum Ziel.
(Würd’ sowas nicht auch Ihnen liegen?)«
Frau Garnichtfaul und Herr Roderich waren Werkzeuge der Propaganda, die moralisierend und belehrend die Bevölkerung zu Brot und Wasser erzog. Doch auch solche Propagandamaßnahmen konnten spätestens seit 1942 die Versorgungslage nicht mehr verbessern.
Eigentlich hätten Sojabohnen für halb volle Mägen sorgen sollen: Fleischersatz-Produkte aus Soja wurden im Ersten Weltkrieg entwickelt. Schätzungen berichten von 11 000 verschiedenen Erzeugnissen. Die Ersatzstoffe waren nicht sonderlich populär, was Hersteller durch pathetische Namen auszugleichen versuchten, indem zum Beispiel die Hensel-Werke ihr Sojamehl unter der Marke »Vaterland« verkauften. Die Nazis förderten den Soja-Anbau systematisch. »Die Deutsche Sojabohne marschiert« titelte die Nationalsozialistische Landpost im Jahr 1937. Nach Kriegsbeginn wurden zuerst Soldaten und dann auch Zivilisten gegen ihren Willen zu Sojakonsumenten.
Hilfe suchte die Führung außerdem in Chemiefabriken, die Ersatzstoffe lieferten. Diese waren billig und allzeit verfügbar. Etwa Vanillin, ein Abfallprodukt der Papierherstellung. Oder Maggi-Würze »zur Geschmacksverbesserung schwacher Suppen, Saucen, Gemüse, Salate, Ragouts«. Oder Malzkaffee und Bohnenkaffee-Extrakt. »Atlantis-Limonadenpulver« sollte »anstelle von Zitronen« genutzt werden. Der Aufdruck gleicht dem heutigen Werbejargon: »Enthält reine Fruchtsäure und Aromastoffe der natürlichen Zitrone. Entspricht der Säure von ca. 4,5 Zitronen.«
In England mussten währenddessen Präsident Roosevelt und der verstorbene französische Spitzenkoch Escoffier als Kronzeugen für Eipulver herhalten.
Otto Horcher
Doch nicht jeder musste sich mit Ersatzprodukten begnügen: Ein
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