Die erregte Republik
nachdenklich zugleich sind, die sich einlassen auf die Wirklichkeit jenseits des Hauptstadtbüros, die teilnehmend, nicht distanziert beobachten, dichte Beschreibungen von Gegenden liefern und den Blick für die feinen Unterschiede behalten, ich würde mir einen Journalismus wünschen, der alle Genres des |235| Internets entdeckt und bespielt, der sich die Räume dort erobert, wo es nötig ist, und sie sein lässt, wo es möglich ist, ich wünsche mir einen Journalismus, der nicht der Wirklichkeit hinterherhetzt, sondern sie kritisch hinterfragt, und, wie hat Henry Kissinger jüngst in einem Interview mit
Newsweek
gesagt: ›You have to know the difference between what is urgent and what is important.‹« 205
All dieses Potenzial trägt der Journalismus in sich. Er ist selbst ein Hoffnungsträger der Emanzipation und der kommunikativen Vernunft. Er kann auf Verständigung orientiert sein – aber eben auch auf sinnlosen Krawall. Es wäre gar nicht so schwer für den Journalismus, auch unter den existierenden Medienbedingungen wieder dorthin zurückzufinden, wo er Beitrag zur und nicht Bedrohung für die Demokratie ist. Er müsste sich nur dazu entschließen, dafür zu sorgen, dass alle Argumente gehört werden, dass seine Themen und Thesen in der Lebenswelt der Menschen auch anschlussfähig sind und partikulare Interessen in der Diskussion auch als solche benannt werden. Und er müsste auch wieder Kritik an sich zulassen. Frank A. Meyer hat dies so formuliert: »Dem Leser, dem Bürger Sprache geben, das ist, das wäre, das war unsere Kernkompetenz. Des Bürgers Bürgermacht nämlich gründet auf der täglichen und alltäglichen Leistung, dass wir Journalisten ihm ein Instrument zur Klärung der Dinge in die Hand geben. Damit er mehr sein kann als nur Konsument. Deshalb ist das unzeitgemäße Wort Aufklärung das richtige Wort für diese Zeit. Wenn aber Journalismus wieder etwas mit Aufklärung zu tun haben soll, dann muss unser Thema wieder das Handwerk sein: das Ringen um das Wort, um die Sprache, um die Geschichte, um die Reportage, um das Interview, um den Kommentar, um den Essay. Kämpfer müssen wir sein, leidenschaftlich für unseren Journalismus.« 206 Gelänge dem Journalismus der Weg zurück |236| zu seinen aufklärerischen Wurzeln, dann wäre er selbst eine ungemein wertvolle Ressource des bürgerschaftlichen Räsonnements. Er wäre dann eine Stimme der kommunikativen Vernunft und würde von einem Störfaktor der Verständigung wieder zum Moderator des Gesprächs, zu einem Mittler zwischen Politik und Bürgern.
Das Politische und das Mediale im 21. Jahrhundert
Welchen Weg also nimmt die Reise, wohin steuert unsere Demokratie? Neben der künftigen Entwicklung des Journalismus inner- und außerhalb des marktorientierten Mediensystems erscheint vor allem die Frage zentral, ob es den politischen Parteien gelingen wird, den Protest, der sich seit Stuttgart, Hamburg und Berlin mehr an ihnen vorbei als wirklich gegen sie gerichtet entwickelte, in eine Unterstützung für die parlamentarische Demokratie zurückzuverwandeln. Denn noch ist nicht entschieden, ob dieser Protest eine Art Paukenschlag für den Beginn eines neues Zeitalters des Bürgerengagements war oder doch mehr ein antipolitischer Ohne-uns-Reflex, ob es also in Zukunft um mehr Demokratie und eine bessere Qualität demokratischer Verfahren geht oder um einen letztlich richtungslosen Zorn, der sich mit den üblichen Verfahren demokratischer Aushandlungsprozesse nicht mehr kanalisieren lässt. Einer neuen Welle der Politisierung steht potenziell eine weitere Verschärfung der Apathie gegenüber. So oder so: Eine Rückkehr zu alten Verhältnissen, gar zu den beschaulichen der Bonner Republik, scheint ausgeschlossen. Die politischen Parteien werden nicht zu ihrer alten Aufgabe als Integratoren breiter sozialer Schichten und Weltanschauungsmilieus zurückfinden, die Bürger werden weiter selbstbewusst und oft auch |237| wütend in politische Prozesse eingreifen und der Strukturwandel der Medienlandschaft wird sich eher beschleunigen als verlangsamen. Das kann man beklagen, es entspricht aber dem Modernisierungstempo einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen. Dies ist freilich kein Plädoyer dafür, alles so zu lassen, wie es ist. Denn es ist unbestritten, dass die Politik die Aufgabe hat, Gesellschaften immer wieder neu auf die veränderten Parameter der Zeit zu justieren. Hätte sie keinen Gestaltungsanspruch und blieben die Umweltbedingungen stets
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