Die erste Todsuende
Mantel oder Handschuhe auszuziehen. Als der Film zu Ende war und mindestens fünfzig Leute gingen, verließ er mit ihnen das Kino. Niemand beachtete ihn, weder am Ausgang der Mann, der die Karten abriß, noch die Frau mit der Taschenlampe, noch die Kartenverkäuferin. Sie würden sich bestimmt nicht an sein Kommen oder Gehen erinnern. Er aber hatte selbstverständlich die abgerissene Eintrittskarte in der Tasche, und den Film kannte er bereits.
Er ging in östlicher Richtung, hatte jetzt beide Hände in den Manteltaschen. Auf einem einsamen Straßenabschnitt ließ er die Lederschlaufe vorsichtig über sein Handgelenk gleiten und hielt den Eispickel jetzt mit der linken Hand am Stiel gepackt. Er knöpfte den Mantel auf, achtete jedoch darauf, daß er nicht aufging, sondern hielt die beiden Vorderteile mit den in den Taschen vergrabenen Händen eng an den Körper gepreßt.
Jetzt begann jene Phase, die ihm am besten gefiel. Gelassenes Dahinschlendern, aufrechte Haltung, den Kopf hoch erhoben. Weder Eile verratend, noch trödelnd. Als er sah, daß ihm jemand entgegen kam, jemand, der vielleicht - vielleicht aber auch nicht - ein Lockvogel der Polizei war, wechselte er wie zufällig auf die andere Straßenseite hinüber, ging dort bis zur Ecke und bog dann ab, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Es war noch früh; und er wollte das Gefühl auskosten.
Er wußte, daß es heute nacht passieren würde, so wie man praktisch von Anbeginn eines Aufstiegs an wußte, daß er erfolgreich verlaufen würde, und deshalb nicht umkehrte. Er war voller Zuversicht, hellwach und brannte darauf, jenen Augenblick überschwenglichen Glücks wiederzuerleben, da das Ewige in ihm war und er wieder eins würde mit dem Universum.
Er wußte, was er vor dem entscheidenden Augenblick empfinden würde. Zunächst einmal Macht: du oder vielleicht du? Die Macht und die Herrlichkeit des Göttlichen strömten ihm durch die Adern. Und dann die Freude, die er aus der Intimität und der Liebe zog, welcher er bald teilhaftig werden würde. Keine körperliche Liebe, sondern etwas viel Feineres, ja so unendlich viel Feineres, daß er es nicht in Worte fassen konnte, sondern nur fühlen und wissen, getragen vom Hochgefühl.
Zum erstenmal war da heute auch noch etwas anderes. Zuvor hatte er Angst gehabt, war ständig auf der Hut gewesen, doch dieser Abend, an dem die polizeilichen Lockvögel unterwegs waren, hatte geradezu etwas von unmittelbarer körperlicher Gefahr. Sie lauerte überall, in der Luft, im Licht, im sanften Wind. Er konnte das Wagnis geradezu riechen; und es erregte ihn genauso wie der Duft frisch gefallenen Schnees oder seines eigenen parfümierten Körpers.
Das alles, Macht, Lust, Gefahr, ließ er, während er dahinschritt, in sich wachsen. Öffnete sich ihnen, ließ jede Hemmung fallen, ließ sich von ihnen umspülen und ertränken. Irgendwann einmal war er im Westen im Schlauchboot auf einem Fluß durch einen Wildbach geschossen, und damals wie heute hatte ihn das nicht unangenehme Gefühl der Hilflosigkeit gepackt, des Ausgeliefertseins an das Glück oder einen unbekannten Gott, das Gefühl, davongetragen zu werden, hierhin, dorthin, nicht mehr aufhören zu können, bis die Leidenschaft sich Bahn gebrochen hatte und der Fluß gelassen zwischen weiten Ufern dahinströmte und das Wagnis zur glücklichen Erinnerung wurde.
Auf der 76th Street wandte er sich westwärts. Etwa einen halben Straßenblock vor ihm ging ein Mann gleichfalls in westlicher Richtung, ging ungefähr im gleichen Tempo wie er, weder schnell noch langsam. Daniel Blank blieb sofort stehen, drehte sich um und ging bis zur 2nd Avenue zurück. Der Mann vor ihm hatte ganz nach einem Lockvogel ausgesehen, ja, er fühlte, daß es einer war. Falls seine Vermutungen stimmten, würde der Mann um den ganzen Häuserblock herumgehen und sich auf der 75th Street nach Osten wenden. Deshalb wandte Blank sich auf der 2nd Avenue gen Süden, blieb an der Ecke stehen und sah nach Westen zur 3rd Avenue hinüber. Und richtig, sein Opfer bog weiter hinten um die Straßenecke und kam ihm jetzt entgegen.
„Ich liebe dich", sagte Daniel Blank leise.
Er sah sich um. Niemand sonst auf der Straße. Keine Fußgänger. Die geparkten Autos alle dunkel. Ein blasser Mond hinter Wolken. Bürgersteig trocken. Ja. Geh dem sich nähernden Mann entgegen. Richte es so ein, daß ihr euch etwa auf halbem Wege zwischen 2nd und 3rd Avenue trefft.
Den Eispickel locker mit den Fingerspitzen der
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