Die Fäden des Schicksals
küsste mich auf die Stirn.
»Das wäre doch toll, und ehe du dichs versiehst, ist das Jahr vorbei. Das hier ist mein großer Durchbruch. Ich werde mir als Künstler einen Namen machen, und dann kann ich endlich anständig von meiner Arbeit leben! Wenn ich wieder da bin, komme ich nach Connecticut, und wir reden über unsere Zukunft.«
Weil ich ihm glauben wollte und weil ich wusste, dass er nie wiederkommen würde, wenn ich mich beklagte, tat ich, was er verlangte.
Drei Wochen später beluden wir den Kombi mit meinen restlichen Habseligkeiten aus dem nun leeren Loft, und David brachte mich nach Winthrop. Er ließ mir den Wagen da; deshalb fuhr ich ihn, nachdem wir ausgeladen hatten, zum Bahnhof, von wo er den Zug zurück nach New York und von dort aus ein Taxi zum Flughafen nahm. Es herrschte schrecklich viel Verkehr. Als wir am Bahnhof ankamen, stand der Zug schon abfahrbereit. David sprang hinein, ohne mir einen Abschiedskuss zu geben.
Es sollte zwei Jahre dauern, bis ich ihn wiedersah.
Abgesehen von der Freude darüber, dass ich wieder bei meiner kleinen Schwester war, gestaltete sich das Leben zu Hause genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Mutter war so unmöglich wie immer und meckerte über alles und jeden.
Besonders häufig zeterte sie darüber, dass ich so dumm gewesen war, David ziehen zu lassen, ohne ihm ein Eheversprechen abzuschwatzen, und lamentierte über Leute, die eine Gelegenheit nicht beim Schopf ergriffen.
»Wie konntest du nur so blöd sein und zulassen, dass er dich vor meiner Tür ablädt und sich dann nach Europa absetzt? Und was willst du jetzt anfangen? Du bist ein schönes Mädchen, Abigail, aber immerhin schon fast dreiundzwanzig! Schönheit ist vergänglich. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede«, fügte sie bitter hinzu. »Kaum beginnt die Blüte zu welken, machen sie sich auf zu saftigeren Weidegründen. Ganz gleich, was diese Frauenrechtlerinnen sagen, wir leben noch immer in einer Männerwelt. Nur die Ehe bietet einer Frau Sicherheit. Was ist, wenn er nicht wiederkommt …«
»Er wird wiederkommen! Das habe ich dir doch schon tausendmal gesagt.«
Mutter feixte. »Das behauptest du, aber was ist, wenn nicht? Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich dich durchfüttere, denn das kann ich nicht. Da schufte ich nun tagein, tagaus in diesem Büro für schäbige dreihundertzwanzig Dollar im Monat«, brummte sie. »Wenn ich nur daran denke, wie viele Tausender dein Vater für seine billigen Flittchen hinausgeworfen hat, und uns ließ er ohne einen …«
»Hör auf damit, Mutter. Ich kann es nicht mehr hören. Und du brauchst mich auch nicht durchzufüttern. Ich suche mir einen Job.«
Und das tat ich auch. Ich hatte die Uni mit einem Bachelor in Geisteswissenschaften als Hauptfach und Kunstgeschichte als Nebenfach verlassen. Genau das Richtige für das Leben, das ich in Manhattan führen wollte, als Inhaberin einer Kunstgalerie, die Davids Skulpturen ausstellte. In Winthrop allerdings gab es für jemanden mit meiner Ausbildung keine Arbeit, und im übrigen Connecticut sah es nicht viel besser aus. Dennoch beschloss ich, mein Glück in New Bern zu versuchen, und ein einziges Mal hatte ich Glück.
In meinem niedlichen Mary-Quant-Kleid mit dem schwarzen ärmellosen Oberteil, dem weißen Faltenrock und dem Stehkragen, das David mir als Abschiedsgeschenk (oder vielleicht eher als Trostpflaster) gekauft hatte, marschierte ich, meinen Lebenslauf in der Hand, in das Kunstmuseum von New Bern und erkundigte mich nach einer Stelle. Wie das Schicksal es wollte, tagte gerade das Kuratorium, dem auch der dreiundvierzigjährige Wolcott Wynne III. angehörte. Er sah mich hereinkommen, nahm den Museumsdirektor beiseite, und im Handumdrehen hatte ich einen neuen Job … und einen neuen Verehrer.
Woolley lud mich an jenem Tag zum Essen ein, und als ich ablehnte, kam er beinahe drei Wochen lang jeden Tag ins Museum und erneuerte seine Einladung. Schließlich gab ich nach. Woolley war ein netter Mensch, wenn auch ein wenig hochnäsig. Er sah gut aus, war sportlich und überaus hartnäckig. Er lud mich in teure Restaurants und ins Theater ein, schickte mir Blumen und Geschenke und ließ von Anfang an keinen Zweifel an seinen Absichten: Er wollte mich zur Frau. Ich mochte Woolley. Es machte Spaß, mit ihm zusammen zu sein, und ich ließ mich gern von ihm ausführen, doch ich wusste, dass ich ihn niemals lieben würde. Mein Herz gehörte noch immer David. Das sagte ich auch Woolley, doch es
Weitere Kostenlose Bücher