Die Fäden des Schicksals
heraus: »Sind sie noch am Leben?« Sofort errötete ich über meine unverblümte Frage, doch die Ärztin schien nichts dabei zu finden.
»Ja, die meisten schon. Und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass Sie zu ihnen gehören werden.« Sie lächelte, als sie meine Verlegenheit bemerkte. »Ist schon gut, Evelyn. Die Frage ist vollkommen berechtigt. Wenn eine Frau erfährt, dass sie Brustkrebs hat, kommt ihr als Erstes eine Frage in den Sinn, die sie kaum zu stellen wagt: ›Muss ich jetzt sterben?‹ Als ich von meinem Krebs erfuhr, ging es mir genauso.«
»Sie hatten Brustkrebs?«
Sie trank einen Schluck Tee und nickte. »Ja. Mir wurde vor sechs Jahren die rechte Brust amputiert und später neu aufgebaut. Der plastische Chirurg hat gute Arbeit geleistet, finden Sie nicht?«
Unwillkürlich starrte ich auf Dr. Finneys Brüste, die vollkommen ebenmäßig wirkten. »Ich hätte nie etwas gemerkt, wenn Sie es nicht gesagt hätten. Sind Sie deswegen Brustchirurgin geworden?«
»Nein, ich war bereits auf dem Gebiet tätig. Doch nachdem ich selbst an Krebs erkrankt war, führte ich meine Praxis vollkommen anders. Bis dahin hatte ich großes Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten gehabt. Ich verfügte über eine vorzügliche Ausbildung, und die Überlebensrate meiner Patientinnen war außergewöhnlich hoch. Das war das Einzige, was für mich zählte. Doch als ich selbst betroffen war, merkte ich, dass es um mehr ging als darum, krankes Gewebe zu entfernen und damit jemandem das Leben zu retten. Seitdem behandle ich Menschen und nicht Krebs-fälle. Als ich selbst meine Brust verlieren sollte, erschrak ich darüber, dass ich wirklich am Boden zerstört war. Mir war gar nicht klar gewesen, wie eng mein Selbstverständnis als Frau mit meinen Brüsten zusammenhing.«
Ich verstand sehr gut, was sie meinte. Als ich dieser Frau gegenübersaß, die nachfühlen konnte, was ich gerade durchmachte, mit ihr redete und dazu eine Tasse Tee trank, kam es mir so vor, als wären wir zwei Freundinnen, die sich über ein Problem unterhielten, und nicht eine Ärztin, die ihrer Patientin sagte, was sie tun sollte. Noch bevor sie ein weiteres Wort gesprochen hatte, wusste ich, dass sie die richtige Ärztin für mich war.
»Das empfindet natürlich jeder anders, denn jeder bringt unterschiedliche Lebenserfahrungen und Bedürfnisse mit. Einige meiner Patientinnen wollen sich auf der Stelle die Brust abnehmen lassen. Manche wünschen danach einen chirurgischen Wiederaufbau, andere dagegen nicht. Manche entscheiden sich für Brustprothesen, während anderen nicht daran gelegen ist. Jede Frau ist anders, und jede Entscheidung hat ihre Berechtigung. Ich bemühe mich nach besten Kräften, meinen Patientinnen zuzuhören, ihnen alle Möglichkeiten aufzuzeigen und mit ihnen gemeinsam die richtige Therapie für sie zu finden. Falls eine Frau möchte, dass ihre Brüste erhalten bleiben, versuche ich mein Bestes. Doch selbstverständlich geht es nicht immer. Auch ich musste mich schließlich mit dem Verlust einer Brust abfinden, um mein Leben zu retten. Aber es tröstet mich, dass ich alle Möglichkeiten in Betracht gezogen habe, bevor ich mich zu einer Mastektomie entschloss.«
»Glauben Sie, Sie können meine Brust retten?«, fragte ich. »Die anderen Ärzte, die ich gefragt habe, sprachen gleich von Mastektomie.«
Sie legte den Kopf schief und nickte. »Viele ausgezeichnete Chirurgen befürworten ein möglichst rigoroses Vorgehen. Häufig ist das der richtige Weg, und, wie ich bereits sagte, viele Frauen wünschen es auch so. Wenn man dahintersteht, ist es eine absolut vernünftige Maßnahme. In Ihrem Fall glaube ich, dass man die Brust möglicherweise erhalten könnte.« Sie schlug die Aktenmappe auf, die meine Krankengeschichte, Tabellen und Röntgenbilder enthielt, und breitete die Unterlagen so auf dem Tisch aus, dass ich sie bequem einsehen konnte. »Ich will Ihnen zeigen, was ich meine«, sagte sie.
Wie Dr. Finney mir im Folgenden erläuterte, tritt Brustkrebs in vielen verschiedenen Formen auf. Die Untersuchungen hatten ergeben, dass ich an einem DCIS, einem duktalen Carcinoma in situ, litt. Dabei handelte es sich um einen nicht-invasiven Krebs, dessen B-Zellen die Trennwand zwischen den Milchgängen und dem sie umgebenden Gewebe noch nicht durchbrochen hatten – was günstig war. Von manchen, so erklärte die Ärztin weiter, wurde DCIS lediglich als Krebsvorstufe angesehen, doch ich hatte ein hochgradiges DCIS mit deutlich
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