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Die Fäden des Schicksals

Die Fäden des Schicksals

Titel: Die Fäden des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Bostwick
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Nichts! Dich hat noch nie jemand außer dir selbst interessiert, noch nicht einmal deine todkranke Schwester!«
    »Nein, das ist nicht wahr!«, protestierte ich. »So klar und einfach, wie du die Dinge darstellst, sind sie nicht. Wenn du erst einmal älter bist, wirst du das verstehen.«
    Ein höhnisches Grinsen. Eine Stimme wie Eis. »Dann kann ich nur hoffen und beten, dass ich nie so alt werde.«
    Lizas bissige Bemerkungen trafen mich mitten ins Herz und verletzten mich. Doch ich erkannte, dass auch sie litt, und zwar viel stärker als ich. Wenn ich es doch bloß schaffen würde, sie zu beruhigen, ihr zu zeigen, wie unvernünftig sie sich benahm. Ich holte tief Luft und nahm einen neuen Anlauf: »Vielleicht hast du in manchem nicht unrecht. Ich habe ein paar Fehler gemacht, aber …«
    Sie schüttelte den Kopf und erwiderte mit rauer Stimme: »Sei still, ich will es nicht hören. Wenn ich dich nicht so hassen würde, könntest du mir beinahe leidtun. Du weißt ja gar nicht, wie armselig du bist. Mein Gott, wie bist du nur so geworden?«
    »Liza …«
    »Das frage ich mich die ganze Zeit. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann sehe ich dein Gesicht, wie es wahrscheinlich vor vierzig Jahren war. Alle sagen, wir sind uns sehr ähnlich.«
    Das stimmte. Es war mir auch schon aufgefallen.
    »Früher einmal warst du wie ich. Du kannst doch nicht so geboren sein. Irgendetwas muss mit dir passiert sein, aber ich weiß nicht, was. Ich schaue mich selbst an und frage mich, ob mit mir das Gleiche geschehen wird. Ich habe solche Angst …«
    In diesen wenigen Minuten hatte sie mehr mit mir gesprochen als in den ganzen vergangenen sieben Monaten. Ich wusste nicht, ob sie wirklich alles glaubte, was sie sagte, aber der letzte Satz stimmte. Sie hatte Angst, und zwar schon seit langer Zeit.
    Liza war erst sechzehn gewesen, als sie erfuhr, dass Susan Krebs hatte, und achtzehn, als ihre Mutter starb. Viel zu jung, um einen solchen Verlust zu bewältigen. Sie musste ganz allein damit fertig werden, denn von mir bekam sie keine Hilfe. Nur einen schnöden Scheck. Dinge, die vor langer Zeit geschehen waren und eine Kluft zwischen mir und meiner Schwester aufgerissen hatten, hatten auch Liza mit in den Abgrund gezogen – den einzigen Menschen, der an all den schrecklichen Ereignissen unschuldig war. Kein Wunder, dass sie mir – und allen anderen – gegenüber so hart und misstrauisch geworden war. Sie hatte die schlimme Erfahrung machen müssen, dass die Menschen, die einen eigentlich lieben sollten, es nicht immer tun und dass man diejenigen, die einen lieben, manchmal verliert. Das arme Kind.
    Und jetzt, wo sie gerade begonnen hatte, sich ein wenig zu öffnen und Vertrauen zu fassen, musste sie das alles noch einmal durchmachen. Warum hatte ich das nicht erkannt? Warum hatte ich nichts gesagt?
    »Liza. Ach, Liza, komm her. Du verstehst das nicht.« Ich streckte die Hand nach ihr aus und öffnete die Arme.
    »Nicht!« Sie machte einen Satz rückwärts, als hätte sie sich an mir verbrannt. »Ich habe dir doch gesagt, ich kann das nicht noch einmal ertragen. Ich hasse dich! Ich hasse dich!«, wiederholte sie, einmal für mich und einmal für sich selbst.
    »Hier kann ich nicht länger bleiben!« Sie drehte sich um, riss die Tür auf und rannte die Treppe hinunter und durch den Garten. Ihre Füße hinterließen tiefe Abdrücke im Schnee.
    Ich lief ihr nach bis zur Tür. »Warte, Liza! Wo willst du hin? Komm zurück, dann reden wir miteinander. Komm zurück! Ich muss dir etwas erklären!«
    Ich brüllte aus vollem Hals, und meine Worte schallten durch die dünne, kalte Luft; vor meinem Mund stand der Atem wie eisiger Nebel, doch Liza blieb nicht stehen. Der Schnee lag jetzt mindestens einen halben Meter hoch, und ich war auf Strümpfen. Ich rannte nach oben, zerrte aufs Geratewohl ein Paar Stiefel, eine warme Jacke und Handschuhe aus dem Schrank und zog sie an. Dann lief ich wieder hinunter und zur Hintertür hinaus. Doch Liza war schon fort.
    So schnell ich konnte, folgte ich ihren Spuren ums Haus herum, über die Einfahrt bis an die Straße, doch sie war nirgends zu sehen, und die Bürgersteige waren bereits geräumt, sodass der Boden nur von einer dünnen Schicht Neuschnee bedeckt war. Da Lizas Schuhabdrücke sich zwischen den Spuren zahlreicher anderer Passanten verloren, konnte ich nicht feststellen, welche Richtung sie eingeschlagen hatte. Ich rannte bis an die Ecke, in der Hoffnung, sie noch zu erspähen. Dabei rutschte ich zweimal

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