Die Falken Gottes
den Füßen ab. Sie vernahm ein reißendes Geräusch, dann fand sie sich auf der harten Erde wieder. Als sie sich stöhnend aufrappelte, stellte sie fest, daß ihr Rock und das Unterkleid gerissen waren. Anscheinend hatte sich der Stoff vor ihrem Sturz in einem Zweig |45| verfangen. Der Riß reichte bis zur Hüfte. Anneke kümmerte sich nicht weiter darum, huschte über den Hof, der zu ihrem Glück menschenleer war, zwängte sich durch eine Hecke in den angrenzenden Garten und lief von dort zum Hinterhof des Hauses von Magnus Ohlin. Der Platz wirkte alles in allem aufgeräumter als die mit Gerümpel zugestellten Höfe der Nachbarhäuser. An der gegenüberliegenden Mauer war sogar ein hübscher Rosengarten angelegt worden. Daneben befanden sich Stachel- und Wacholderbeersträucher.
Anneke vernahm ein Geräusch und hockte sich rasch neben das Abtritthäuschen. Die Tür zum Haus öffnete sich mit einem Quietschen. Eine füllige Frau trat nach draußen, leerte einen Eimer aus und zog sich wieder zurück, ohne Anneke zu bemerken.
Anneke wartete einen Moment ab, dann faßte sie sich ein Herz und lief zum Stallgebäude. Erleichtert stellte sie fest, daß die Tür nicht verschlossen war. Sie trat ein und schaute sich um. Zu beiden Seiten des Eingangs befanden sich leere Gatter, weiter hinten stand eine Kutsche. Das Gefährt wirkte bei weitem nicht so prächtig wie die Karossen der hohen Herrschaften, die sie in der Stadt zu Gesicht bekommen hatte. Am Dach der Kutsche blätterte die Farbe bereits an mehreren Stellen ab, und auch der goldene Lack, mit dem die Holzverzierungen einst gestrichen worden waren, glänzte wohl schon lang nicht mehr.
Wo aber hielt sich Magnus Ohlin auf? Hatte er das Stallgebäude bereits wieder verlassen? Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es schien aus der Kutsche zu ihr zu dringen. Anneke machte einen Schritt auf das Gefährt zu.
Nun vernahm sie es erneut. Ein Stöhnen.
Sie schlich zum hinteren Wagenfenster und lugte vorsichtig in das Innere der Kutsche. Anneke sah dort einen Mann und eine Frau.
Die Frau hatte ihr den Rücken zugewandt und beugte |46| ihren Kopf tief in den Schoß des Mannes. Anneke konnte erkennen, daß der Mann ein besticktes Wams und eine seidene Hose trug. Es handelte sich also gewiß nicht um einen Knecht, sondern wohl eher um den Herrn des Hauses.
Anneke schaute direkt in sein Gesicht, doch da er die Augen geschlossen hielt, bemerkte er sie nicht. Seine Hände umfaßten den Hinterkopf der Frau und preßten ihren Kopf weiter nach unten. Wieder stöhnte er laut. Es klang fast so, als leide er Schmerzen, doch schon im nächsten Augenblick lächelte er selig.
Wenn dies Magnus Ohlin war, dann war er jünger als Anneke es erwartet hatte. Er mochte an die dreißig Jahre alt sein. Das blonde Haar fiel ihm bis auf die Schultern, sein Schnurr- und Kinnbart wirkte penibel gepflegt, und die blasse Haut zeugte davon, daß dieser Mann die meiste Zeit des Tages in geschlossenen Räumen verbrachte.
Noch immer verfolgte Anneke gebannt das lustvolle Treiben in der Kutsche. Sie überlegte, ob es besser wäre, sich abzuwenden, doch im nächsten Moment war es dazu bereits zu spät, denn der Mann schlug die Augen auf und fuhr zusammen, als er Anneke erblickte.
»Heiliger Jesus!« krächzte er und drückte den Kopf der Frau von sich fort. Sie gab ein murrendes Geräusch von sich und drehte ihr Gesicht zum Fenster. Es handelte sich um die schnippische Magd, die Anneke an der Tür abgewiesen hatte. Nun aber schaute sie Anneke nicht herablassend an, sondern regelrecht zornig.
Rasch drehte Anneke sich um und wandte den Blick ab. Die Tür zur Kutsche öffnete sich quietschend. Der großgewachsene Mann stieg aus und rief Anneke zu: »Wer, zum Teufel, bist du, und was hast du hier verloren?« Er baute sich vor ihr auf und nestelte an den Bändern seiner Hose. »Bist du stumm, oder hat dir unser Anblick nur die Sprache verschlagen?«
|47| Sie räusperte sich. »Seid Ihr der Justizrat Magnus Ohlin?«
»Der und kein anderer.«
Erst jetzt fiel Anneke auf, wie aufwendig sein Wams mit bunten Rosetten, Perlenstickereien und Galons verziert war. Jeder Mann von Adel trug gerne seinen Wohlstand zur Schau, doch diese Aufmachung kam einem Geckenkostüm gleich. Zudem hing Ohlin ein süßlicher Geruch an. Anneke hatte schon des öfteren einen ähnlichen Parfümdunst an den herrschaftlichen Herbergsgästen in der Monsbach-Schenke wahrgenommen, aber noch nie war ihr ein so penetranter Duft in die Nase
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