Die falsche Tochter - Roman
Familienkultur bezeichnest. Ich kenne kein Ehepaar, das einander mehr liebt als meine Eltern. Und doch war mir auch immer klar, dass meine Mutter die Bedürftigere war. Sie hat ihre Musik aufgegeben, ist von ihrer Familie weggezogen und wurde die perfekte Arztfrau, weil sie auf die Billigung meines Vaters angewiesen war. Es war ihre Entscheidung, das weiß ich. Und sie ist auch glücklich damit. Aber sie hat immer hinter meinem Vater zurückgestanden, und ich habe mir geschworen, dass mir dass nie passieren würde. Ich wollte nie jemanden so sehr brauchen, dass ich ohne ihn keine ganze Person wäre. Und dann bist du in mein Leben hereingebrochen, und ich musste aufpassen, dass ich nicht vergaß, wer ich war.«
»Ich habe nie von dir verlangt, dass du irgendetwas aufgibst.«
»Nein. Aber ich hatte Angst, ich würde es tun. Angst, nicht mehr denken zu können, ohne mich zuerst zu fragen, was du denkst. Bei meiner Mutter war es so. ›Wir fragen deinen Vater‹,
›Warten wir ab, was dein Vater dazu sagt.‹ Es hat mich wahnsinnig gemacht.« Callie lachte leise und schüttelte den Kopf. »Ich wollte nicht, dass ich dich brauche, weil es mich schwach und dich stark gemacht hätte. Und dabei war es schon schlimm genug, dass ich dich mehr liebte als du mich und du dadurch im Vorteil warst.«
»Dann war es also ein Wettbewerb?«
»Teilweise. Je mehr ich an deiner Liebe zweifelte, desto mehr bohrte ich. Je mehr ich bohrte, desto stärker zogst du dich zurück, und deshalb bohrte ich noch mehr. Du solltest mir beweisen, dass du mich liebst.«
»Und das habe ich nie getan.«
»Nein, das hast du nie getan. Und deshalb wollte ich dich verletzen. Ich wollte dir tiefe Wunden zufügen, um mir zu beweisen, dass ich dich verletzen kann.«
»Dann musst du dich jetzt ja besser fühlen, nachdem du mich förmlich in Stücke zerrissen hast.«
»Ja. Und dabei ist es eigentlich ziemlich mies.«
»Es freut mich, dass ich dir behilflich sein konnte.« Er zog ihren Arm zu sich heran und führte ihre Hand an seine Lippen.
»Du kriegst kaum heraus, dass du mich liebst. Ich habe Angst, dich zu lieben. Was zum Teufel sollen wir nur tun?«
»Offensichtlich sind wir füreinander bestimmt.«
Sie drückte ihr Gesicht an seinen Rücken und lachte. »Wahrscheinlich hast du Recht.«
Lass die Toten ruhen, dachte Callie, während sie vorsichtig Erde von den Fingerknochen einer Frau bürstete, die seit tausenden von Jahren tot war. Würde ihr diese Frau, die nach Callies Schätzung bei ihrem Tod ungefähr sechzig gewesen sein musste, wohl zustimmen? Würde sie entsetzt darüber sein, dass ihre Knochen von einer Fremden, die in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt lebte, ausgegraben wurden? Vielleicht würde die Frau sich ja auch darüber freuen, dass diese Fremde etwas über sie erfahren wollte. Während Callie
kurz in der Arbeit innehielt, um sich Notizen zu machen, fragte sie sich, ob es ihr selbst wohl Recht wäre, wenn jemand tausende von Jahren nach ihrem Tod ihre sterblichen Überreste untersuchen würde. Dabei blieben, trotz aller modernen Untersuchungsmethoden, immer noch so viele Fragen unbeantwortet. Die Archäologen konnten nur spekulieren, wie lange ein Mensch gelebt hatte, wie seine Lebensgewohnheiten und sein Gesundheitszustand gewesen waren und was seinen Tod verursacht hatte. Aber sie würden niemals erfahren, wer die Eltern dieses Menschen gewesen waren, wen er geliebt hatte, mit wem er befreundet gewesen war oder ob er Kinder gehabt hatte. Sie würden nie erfahren, was ihn zum Lachen oder Weinen gebracht, was ihn geängstigt oder wütend gemacht hatte.
Doch galt das nicht in gewisser Weise auch für sie selbst? Was wusste sie schon – abgesehen von einigen wenigen nüchternen Fakten –, wer Callie Dunbrook wirklich war? War sie stark genug, um die Fragen nach ihrer eigenen Vergangenheit zu klären? Wenn sie davor zurückscheute, die Knochen ihrer eigenen Vergangenheit auszugraben, dann hatte sie auch kein Recht dazu, diejenigen einer Frau zu untersuchen, die schon seit Ewigkeiten tot war.
»Wir beide sitzen sozusagen im selben Boot«, seufzte Callie leise und legte ihr Klemmbrett beiseite. Am liebsten wäre sie davongelaufen, hätte ihr Bündel geschnürt und die Ausgrabung verlassen. Weg von den Toten, von den Cullens, von den vielen Fragen. Am liebsten hätte sie vergessen, dass sie jemals die Namen Marcus Carlyle oder Henry und Barbara Simpson gehört hatte. Vielleicht würde sie sogar damit leben können. Ob
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