Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Ergänzungsfiguren, aber Freunde
[picture alliance/Kurt Rohwedder]
Nein, denke ich, vermutlich hätten die beiden nie wirklich miteinander ins Gespräch kommen können, denn selbst das Deutsch, das sie miteinander sprachen, wurde zwischen ihnen zur Fremdsprache. Am deutlichsten vermittelt sich diese unüberbrückbare Fremdheit zwischen den beiden, wenn man Brandts wortloses Knien in Warschau mit Helmut Schmidts Rede in Auschwitz-Birkenau am 23. November 1977 vergleicht. Die Rede beginnt mit dem eindrucksvollen Satz: »Eigentlich gebietet dieser Ort zu schweigen.« Aber Schmidt schweigt nicht. Er spricht mit klirrender Rationalität. Er spricht vor allem vom deutsch-polnischen Dialog. Er spricht vom Hier und Jetzt. Er spricht – man liest es und staunt – von Hitlers deutschen Opfern, vom Widerstand gegen ihn. Hier? Ist das Chuzpe? Fehlende Empathie? Kann man als deutscher Bundeskanzler in Auschwitz sprechen, ohne ausdrücklich die ermordeten Juden zu nennen und stattdessen von deutschen Opfern zu sprechen? Schmidt spricht – und das muss man bedenken – im Ton mit großer Empathie, auch die Mimik spricht von historischer Last, von Entsetzen, aber darf Sprache an diesem Ort so kunstvoll beredt schweigen? Darf sie Politik machen, wo Politik besser unterbliebe? Darf sie so steinern sein?
Nein, ein Fragezeichen finde ich in dieser kurzen Rede nicht.
Mir ist noch das Schnauben im Ohr. Auch das Pfeifen. Die gespitzten Lippen. Ein sonniger Tag, Helmut Schmidt ist ein fröhlicher Mann.
Auf dem Rückweg, im Speisewagen.
Neben mir am Tisch sitzt erkennbar ein Fotograf, der Apparat, den er vor sich auf den Tisch gelegt hat, ist groß wie ein Fußball. Er kommt mit dem Mann an seinem Tisch ins Gespräch. Wozu er denn, fragt der andere, der immer ein eilfertig meckerndes Lachen ausstößt, diesen Riesenapparat brauche? Er sei, sagt der Fotograf, gerade in Hamburg gewesen, um Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zu fotografieren, der Spiegel bereite da ein großes Stück vor. »Ach, wie interessant«, sagt der andere und zählt auf, welche Schmidt-Bücher er gelesen habe und dass Loki …
Und jetzt sehe ich es auch: An jedem Tisch des Speisewagens, ja, im ganzen Zug sitzen Leute, die lesen Schmidt! Sie alle kommen zurück von einem Gespräch mit dem Altbundeskanzler, jeder hat schon mal mit Schmidt im Schützengraben der Weltgeschichte gelegen, eine letzte Zigarette geraucht, jeder hat mit ihm seine Fragezeichen über Bord geworfen, und draußen an den Windrädern kleben Plakate »Der bessere Mann muss Kanzler bleiben«, und orangefarbene Luftballons steigen in den Himmel, auf denen steht nur: »Schmidt!!!«
Matthias vom Dach
Als Matthias Brandt mit dem Fernsehzweiteiler »Im Schatten der Macht« 2003 schlagartig einem größeren Publikum bekannt wurde, war das so, als sei er just von einem Dach heruntergepurzelt, besser heruntergeflogen mit einem Propeller auf dem Rücken, oder als sei er aus einer mächtigen, mit rotem Samt ausgeschlagenen und allerlei buntem Trödel- und Zauberkram gefüllten Kiste gestiegen. Wo, bitte, kam der her? Matthias Brandt?
Ich arbeitete damals bereits einige Jahre als Fernsehkritiker, studierte die »TV-Spielfilm« wie ein Wissenschaftsmagazin, saß in Fernsehpreisjurys und setzte dort ein hochgestochen-qualitätseinklagendes Jurorengesicht auf, ich wusste zudem, wer Willy Brandt war, und hatte als Student Brandt-Biographien wie die von Carola Stern gelesen, doch von Matthias Brandt hatte ich, ehrlich gesagt, nie etwas gehört. Und dann hieß es auch noch, der jüngste Brandt-Sohn würde den ärgsten Feind seines Vaters spielen, Günter Guillaume, ja, von dem wiederum hatte man was gehört. War das nun ein billiger PR-Gag? In der Fernsehbranche wusste man nicht so genau, ob man den Kopf schütteln, einen zynischen Kommentar abfeuern, die hohe Schule des Marketings loben oder erst einmal abwarten sollte. Von allem etwas. Doch eins war klar, und ich erinnere mich noch, was ich dachte, als ich im Sommer 2002 irgendwo die dpa-Meldung »Willy Brandts Sohn spielt Guillaume« las, ich dachte: Wie sieht der wohl aus? Was ist das für einer? Kann der was, und von welchem Dach ist der gestiegen? Die Neugier war geweckt. Man wartete gespannt auf Günter-Matthias-Guillaume-Brandt. Kein Drehbuchautor wäre auf so eine schillernde Schicksals-Volte verfallen. Der Sohn eines Bundeskanzlers wird Schauspieler und spielt dann just den mausgrauen Agenten, über den der Vater letztendlich gestürzt
Weitere Kostenlose Bücher