Die Farbe der Gier
die Schrecken jenes Tages, als sie Jack sah, der unter dem Artists Gate auf der Stelle lief.
»Wartest du schon lange, Stalker?«, rief Anna, als sie an ihm vorbei in Richtung Teich joggte.
»Nein«, erwiderte er, als er sie eingeholt hatte. »Ich habe bereits zwei Runden hinter mir, darum ist das für mich jetzt die Abkühlungsphase.«
»Ach, schon die Abkühlungsphase?« Anna beschleunigte. Sie wusste, sie würde nicht in der Lage sein, diese Geschwindigkeit 340
länger durchzuhalten. Nach nur wenigen Sekunden lief er schon wieder an ihrer Seite.
»Nicht übel«, lobte Jack, »aber wie lange reicht dein Stehvermögen?«
»Stehvermögen? Ich dachte, das ist ein Männerproblem.«
Anna versuchte immer noch, das Tempo vorzugeben. Sie kam zu dem Schluss, dass sie nur hoffen konnte, ihn abzulenken. Sie wartete, bis das Frick Museum in Sichtweite kam.
»Nenne mir fünf Künstler, die in diesem Museum ausgestellt werden«, sagte sie, in der Hoffnung, sein mangelndes Wissen könnte ihre mangelnde Geschwindigkeit kompensieren.
»Bellini, Mary Cassatt, Renoir, Rembrandt und zwei Holbeins
– More und Cromwell.«
»Na schön, aber welcher Cromwell?«, fragte Anna keuchend.
»Thomas, nicht Oliver«, antwortete Jack.
»Nicht schlecht, Stalker«, gab Anna zu.
»Die Schuld dafür kannst du meinem Vater geben«, meinte Jack. »Wann immer er sonntags auf Streife musste, nahm mich meine Mutter mit in eine Galerie oder ein Museum. Ich hielt es für reine Zeitverschwendung, bis ich mich verliebt habe.«
»In wen?«, fragte Anna, während sie den Pilgrim’s Hill hinaufjoggten.
»In Rossetti – oder genauer gesagt in seine Geliebte, Jane Burden.«
»Die Gelehrten sind geteilter Ansicht, ob er je mit ihr geschlafen hat«, sagte Anna. »Und ihr Ehemann – William Morris – bewunderte Rossetti so sehr, dass man glaubt, er hätte nicht einmal etwas dagegen gehabt.«
»Törichter Mann«, meinte Jack.
»Liebst du Jane immer noch?«, wollte Anna wissen.
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»Nein. Ich habe mich seitdem weiterentwickelt. Habe die Präraffaeliten für das Echte und Wahre aufgegeben und mich in Frauen verliebt, deren Brüste oft hinter ihren Ohren enden.«
»Dann musst du viel Zeit im Museum of Modern Art verbracht haben.«
»Mehrere Blind Dates«, gab Jack zu, »aber meine Mutter ist dagegen.«
»Mit wem solltest du ihrer Meinung nach ausgehen?«
»Sie ist altmodisch, darum passt ihr jede, die Maria heißt und Jungfrau ist. Aber ich arbeite an ihr.«
»Arbeitest du auch noch an etwas anderem?«
»Zum Beispiel?«, fragte Jack.
»Wofür das ›R‹ steht«, sagte Anna, fast völlig atemlos.
»Sag du es mir«, bat Jack.
»Ich würde auf Rumänien tippen.« Anna stieß die Worte mit großen Zwischenpausen aus.
»Du hättest zum FBI gehen sollen.« Jack wurde langsamer.
»Du bist also schon darauf gekommen«, schlussfolgerte Anna.
»Nein«, gab Jack zu. »Ein Typ namens Abe hat mich darauf gebracht.«
»Und?«
»Und ihr beide hattet Recht.«
»Wo befindet sich der rumänische Club?«
»In einem baufälligen Viertel in Queens«, erwiderte Jack.
»Und was hast du entdeckt, als du das Schließfach geöffnet hast?«
»Ich bin nicht ganz sicher«, erwiderte Jack.
»Spiel keine Spielchen, Stalker. Sag mir einfach, was in dem Schließfach war.«
»Ungefähr zwei Millionen Dollar.«
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»Zwei Millionen?«, wiederholte Anna ungläubig.
»Tja, vielleicht nicht ganz so viel, aber genug, dass mein Chef das Gebäude ab sofort überwachen lässt und meinen Urlaub gestrichen hat.«
»Was für ein Mensch bewahrt zwei Millionen in bar versteckt in einem Schließfach in Queens auf?«, fragte Anna.
»Ein Mensch, der es nicht riskieren kann, irgendwo in der Welt ein Bankkonto zu eröffnen.«
»Olga Krantz«, sagte Anna.
»So, jetzt bist du an der Reihe. Hast du bei deinem Abendessen mit Tina etwas erfahren?«
»Ich dachte schon, du würdest nie fragen«, meinte Anna und lief weitere 100 Meter, bevor sie sagte: »Fenston hält den neuesten Zuwachs seiner Sammlung für prachtvoll. Und als Tina seinen Morgenkaffee ins Büro brachte, lag eine Ausgabe der New York Times auf seinem Schreibtisch, aufgeschlagen auf Seite 17.«
»Offenbar nicht die Sportseiten«, sagte Jack.
»Nein, die internationalen Seiten.« Anna zog den Artikel aus ihrer Jackentasche und reichte ihn Jack.
»Ist das ein Trick, um herauszufinden, ob ich mit dir mithalten kann, während ich lese?«
»Nein, es ist ein Trick, um herauszufinden, ob du lesen kannst,
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