Die Farbe der Gier
wenn sie geduscht, sich angezogen, gefrühstückt und die New York Times gelesen hatte. Aber da sie in den vergangenen 14 Tagen jede einzelne ihrer goldenen Regeln gebrochen hatte, hörte sie die Nachrichten auf ihrer Mobilbox ab, noch bevor sie das Bett verließ. Eine stammte vom Stalker, der sie bat, ihn anzurufen, was sie zum Lächeln brachte. Ein Anruf kam von Tina, die aber keine Nachricht hinterlassen hatte.
Und eine Nachricht stammte von Mr. Nakamura. Anna runzelte die Stirn, denn es waren nur vier Worte: ›Bitte dringend zurückrufen. Nakamura.‹
Anna beschloss, kalt zu duschen, bevor sie zurückrief. Das Wort dringend ließ sie immer vom Schlimmsten ausgehen –
Anna gehörte zu denen, die das Glas stets halb leer sahen, nicht halb voll.
Sie war hellwach, als sie aus der Dusche trat. Ihr Herz klopfte in derselben Geschwindigkeit wie nach ihrer morgendlichen Joggingrunde. Sie setzte sich auf den Bettrand und versuchte, sich zu sammeln.
Sobald Anna das Gefühl hatte, dass ihr Herz wieder normal schlug, wählte sie Nakamuras Nummer in Tokio.
»Hai, Shacho-Shitso desu«, sagte die Empfangsdame.
»Ich hätte gern Mr. Nakamura gesprochen.«
»Wen darf ich melden?«
»Anna Petrescu.«
»Ah ja, er erwartet Ihren Anruf.« Annas Herzschlag beschleunigte sich wieder.
»Guten Morgen, Dr. Petrescu.«
353
»Guten Tag, Mr. Nakamura.« Anna wünschte, sie könnte sein Gesicht sehen und auf diese Weise schneller ablesen, was das Schicksal für sie bereithielt.
»Ich habe vor kurzem ein höchst unangenehmes Gespräch mit Ihrem ehemaligen Chef, Bryce Fenston, geführt«, fuhr Nakamura fort. »Und ich fürchte …« Anna vermochte kaum zu atmen, »… er hat mich dazu gebracht, neu zu überdenken …«
Würde sie sich übergeben müssen? »… was ich von diesem Mann halte. Das ist jedoch nicht der Grund meines Anrufs. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Sie mich derzeit ungefähr 500
Dollar pro Tag kosten, da ich, wie Sie es wünschten, fünf Millionen Dollar bei meinen Anwälten in London hinterlegt habe. Daher würde ich den van Gogh gern so schnell als möglich sehen.«
»Ich könnte in den nächsten Tagen nach Tokio fliegen«, versicherte Anna ihm. »Aber zuerst muss ich nach England und das Gemälde abholen.«
»Das wird nicht nötig sein«, meinte Nakamura. »Ich habe am Mittwoch einen Termin mit Corus Steel in London und komme gern einen Tag früher, wenn das Lady Arabella genehm ist.«
»Ich bin sicher, das passt ihr gut«, sagte Anna. »Ich spreche mit Arabella und rufe dann Ihre Sekretärin an, um die Einzelheiten zu bestätigen. Wentworth Hall liegt nur etwa 30
Autominuten von Heathrow entfernt.«
»Hervorragend«, sagte Nakamura. »Ich freue mich schon darauf, Sie beide morgen Abend zu sehen.« Er hielt kurz inne.
»Übrigens, Anna, haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie die Direktorin meiner Stiftung werden wollen? Denn von einer Sache hat mich Mr. Fenston überzeugt: Sie sind auf jeden Fall 500 Dollar am Tag wert.«
Obwohl Fenston den Artikel nun schon zum dritten Mal gelesen hatte, musste er immer noch lächeln. Er konnte es kaum 354
erwarten, Leapman diese Neuigkeit mitzuteilen, obwohl er vermutete, dass der den Artikel ebenfalls schon gelesen hatte.
Fenston sah auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. Kurz vor zehn.
Leapman verspätete sich sonst nie. Wo war er?
Tina hatte ihn bereits gewarnt, dass Mr.
Jackson,
Sachverständiger von Lloyd’s in London im Wartezimmer saß, und der Empfang hatte eben mitgeteilt, dass Chris Savage von Christie’s auf dem Weg nach oben war.
»Sobald Savage auftaucht, schicken Sie beide herein«, befahl Fenston. »Und dann sagen Sie Leapman, dass er dazukommen soll.«
»Ich habe Mr. Leapman heute Morgen noch nicht gesehen«, entgegnete Tina.
»Tja, dann sagen Sie ihm, dass ich ihn brauche, sobald er kommt.«
Fenston musste erneut lächeln, als er die Schlagzeile noch einmal las.
KÜCHENMESSERMÖRDERIN ENTKOMMEN.
Es klopfte an die Tür und Tina führte zwei Männer in sein Büro.
»Mr. Jackson und Mr. Savage«, stellte sie vor. Schon allein aus ihrer Kleidung ließ sich mühelos schließen, wer der Versicherungssachverständige war und wer sein Leben in der Kunstwelt zubrachte.
Fenston trat vor und schüttelte die Hand eines kleinen Mannes mit schütterem Haar in einem marineblauen Nadelstreifenanzug und einer blauen, mit einem Wappen verzierten Krawatte, der sich als Bill Jackson vorstellte. Fenston nickte Savage zu, den er im Laufe der
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