Die Farbe der See (German Edition)
Glas des winzigen Bullauges über seiner Koje erstreckte sich die schwarze Weite der See, nur gelegentlich von einem vorüberhuschenden Schaumkamm unterbrochen. Im Norden lag ein heller Streif am Himmel. Mittsommer war erst wenige Wochen her und die nordischen Nächte waren hell. Ole überlegte. Anholt war eine kleine dänische Insel mitten im Kattegatt. Fast schon auf halber Strecke nach Schweden …
Schweden! Seit der Starbootregatta im letzten Sommer war das Land für Ole mit einem anderen Namen verbunden.
Verdammt! Waren es die stärkeren Bewegungen des Schiffes, die hier im Bugraum besonders deutlich zu spüren waren, oder warum hatte Ole auf einmal so ein flaues Gefühl in der Magengegend? Er war doch noch nie seekrank gewesen!
6. Kapitel
TÜRKIS
In der späten Nachmittagssonne schimmerte die See vor Anholt in all jenen Farben, die Ole am meisten liebte. Weit draußen das dunkle, ruhige Blaugrün des tiefen Wassers, das sich mit flacher werdendem Grund allmählich in immer helleres Grün verwandelte, bis es schließlich vor dem Strand in einem beinahe durchsichtigen Türkis leuchtete, durchzogen vom Silber der sich auf dem Strand brechenden Wellen. Ein märchenhafter, strahlender Farbverlauf, den Ole in dieser Schönheit schon lange nicht mehr gesehen hatte. Seit Ende August des vergangenen Jahres nicht mehr, um genau zu sein.
Es waren dieselben Farben wie in Linas Augen.
Sehnsüchtig blickte Ole nach Nordosten, wo ein dunkler Strich auf der Kimm lag. Schweden. Mehr eine dunstige Ahnung als die Kontur einer Küste. Keine vierzig Meilen bis dort und doch unerreichbar fern. Und selbst wenn er jemals hinkäme, was würde es ihm nützen? Dies dort drüben war die Westküste der Schwedischen Halbinsel. Lina und ihr Vater lebten in Stockholm, hunderte von Meilen entfernt auf der Ostseite des Landes. Ole schüttelte unwillig den Kopf. Schweden und Lina, beides war nichts als unsinnige Tagträumerei.
Ole lag ausgestreckt am Rand der bewaldeten, Vestklit genannten Anhöhe der Insel und schnitzte mit dem Takelmesser seines Großvaters an einem Stück Holz herum. Hinter ihm rauschten die Föhren und knorrigen Eichen im Westwind, und der warme, angenehme Geruch von Ginster, Heidekraut und Strandhafer lag in der Luft. Unten in dem kleinen, von einer schützenden Steinmole umfassten Fischerhafen war die Skagerrak zu sehen. Nach der durchsegelten Nacht lag sie nun sauber aufgeklart und friedlich neben zwei Krabbenkuttern am Kai.
Ole seufzte. Anholt bei Sonne, das war einer der besten Orte in der ganzen Ostsee, den man sich vorstellen konnte. Salzig, klar und sommerfrisch. Meilenweit entfernt von jener grauen Welt im Krieg, die gnädig von der Krümmung des weiten Horizonts verborgen wurde.
Den Vormittag hatte die Crew zur Erholung frei bekommen. Die meisten der Kadetten hatten ihn schlicht verschlafen. Ole hatte ihn gemeinsam mit Richard, Karl und einigen anderen am Strand in der Sonne auf der faulen Haut verbracht. Am Nachmittag war dann vom Konteradmiral Unterricht für die Kadetten angeordnet worden. Verwaltungs- und Militärrecht. Strassers Fach. Ole war froh, nichts damit zu schaffen zu haben. Der Kaleu hatte, das wusste Ole aus Karls treffsicherer Parodie, die unangenehme Angewohnheit, seinen ohnehin schon allzu zähen Lehrstoff mit langatmigen Exkursen in nationalsozialistischer Geisteserziehung zu verdicken. Danach hatte für die Kadetten noch ein Zehn-Kilometer-Dauerlauf um die halbe Insel auf dem Programm gestanden. »Mens sana in corpore sano«, wie Strasser angemerkt hatte. Selbst die simple körperliche Ertüchtigung hatte in seinen Augen noch dem Führer zu gefallen.
Nein, Ole beneidete keinen der angehenden Offiziere um das, was sie erwartete. Heute nicht. Und erst recht nicht, wenn diese Reise endete.
Die Skagerrak lag also still und verlassen da. Einzig Rausch war vorhin einmal kurz an Deck zu sehen gewesen. Kämpfte vermutlich wieder mit dem defekten Funkgerät, das so etwas wie ein heimliches Hobby von ihm zu sein schien.
Der Konteradmiral war ebenfalls nicht an Bord.
Ole kniff die Augen zusammen. Er stand seit über einer Stunde auf dem Molenkopf der Hafeneinfahrt. Genau wie Ole selber schien auch von Wellersdorff voller Ungeduld nach Norden übers Meer zu blicken. Allerdings wohl kaum wegen der schwärmerischen Sehnsucht für ein schwedisches Mädchen. Es sah so aus, als warte er auf etwas. Ein Schiff vermutlich.
Vielleicht ein befreundeter Kommandant auf dem Rückweg von der Nordfront,
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