Die Farbe der See (German Edition)
erinnerte, das ihn und Richard mit dem Schiff verband.
Dann kam der Ruck.
Als das Gewicht ihrer Körper von der Geschwindigkeit der Yacht in das Fall hineingerissen wurde, war es Ole, als werde er in zwei Hälften zerrissen, und alle Luft, die er noch in der Lunge gehabt hatte, wurde herausgepresst.
Dann verstärkte sich der Zug noch einmal und ihre Körper wurden willenlos im Wasser umeinandergewirbelt. Oben und unten, nicht mehr auseinanderzuhalten.
War es so auch für Großvater gewesen, als er ertrank? Das war Oles letzter Gedanke. Er durfte das Messer nicht loslassen! Dann schwanden ihm die Sinne, und alles war nur noch schwarz.
Der Meeresboden, der Oles Körper nach seiner langen schrecklichen Fahrt hinab in die schwarze Tiefe empfing, war überraschend weich. Und überhaupt nicht kalt, wie Ole immer erwartet hatte.
Und dann war da inmitten der Finsternis mit einem Male dieses Licht. Ole konnte es auf seinen geschlossenen Lidern spüren. Ein warmes, goldenes Licht, das leicht schwankte und hier unten, in der kalten, einsamen Tiefe des Meeres eigentlich nichts verloren hatte.
Es sei denn natürlich, man war tot und ertrunken, und das Licht leitete einen dorthin, wo die Seelen all jener hingelangten, die ihre sterbliche Hülle hinter sich gelassen hatten.
Nach einer Weile wagte Ole die Augen zu öffnen. Da war nicht nur Licht. Unscharf konnte er auch ein Gesicht sehen, das auf ihn herabblickte. Und eine Hand, die ihm zart über die Stirn strich.
Manche der Fischer auf den nordfriesischen Inseln glaubten fest, dass ein ertrunkener Seemann am Grunde der See von einer Meerjungfrau empfangen und getröstet wurde. Sein Vater hatte ihm als Kind oft entsprechende Geschichten erzählt.
Ole blinzelte, um die salzigen Schlieren zu vertreiben, die seinen Blick trübten. Seine Meerjungfrau hatte lange, blonde Haare und meergrüne Augen. Und als sie ihn anlächelte, zeigten sich zwei wundervolle Grübchen auf ihren Wangen.
Lina? War das möglich?
Ole wollte sich aufrichten und etwas sagen, aber ihre kühle, schlanke Hand legte sich auf seine Lippen.
»Schhhht!«, machte die Meerjungfrau. »Nicht sprechen!«
Sie hatte sogar ihre Stimme.
Ein unbeschreibliches Gefühl der Wärme und des Trostes durchströmte Ole. Ertrinken war also wirklich nicht der schreckliche Tod, wie man gemeinhin glaubte. Denn es war das Gegenteil von Einsamkeit und Kälte, das einen am Grund des Meeres erwartete. Es waren Wärme, Geborgenheit, Liebe.
Dankbar schloss Ole abermals die Augen.
Aber die Dunkelheit, die ihn nun wieder umfing, hatte all ihre Schrecken verloren.
7. Kapitel
ANTHRAZIT
Im ersten fahlen Morgenlicht war die See noch immer aufgewühlt und ihre Farbe glich einem harten, metallischen Anthrazit. Wie der Schuppenpanzer eines Ungeheuers, dessen feuchtschwarz schimmernder Leib in seiner ganzen Größe nur langsam von einem ersten, aschgelben Lichtschimmer am Himmel aus der Dunkelheit der Nacht herausgearbeitet wurde. Selten war Ole die See so furchteinflößend und gleichzeitig so schön erschienen wie in dieser Stunde.
Obwohl der Wind bereits nachgelassen hatte, war sie noch immer zornig. Wie ein altes, hungriges Tier, das sich um eine sicher geglaubte Beute betrogen fühlte. Ole fröstelte. Nein, er war nicht ertrunken. Aber viel hätte nicht gefehlt, dass der gierige schwarze Schlund dieses Ungeheuers Richard und ihn verschlungen hätte. So wie vor Jahren den Fischer Ove Storm, dessen Initialen in den Griff von Oles Takelmesser eingearbeitet waren.
Inzwischen saß Ole in trockene Kleidung gehüllt mittschiffs an Deck der Skagerrak. Sein Blick ging ins Leere und seine Gedanken waren bei Lina, deren Gesicht er letzte Nacht so deutlich vor sich gesehen hatte, als er in den rauen Wassern zwischen Leben und Tod gekreuzt war. Deren Stimme er gehört und deren Hand er sogar auf seinen Lippen gespürt zu haben glaubte.
Aber natürlich war es nicht sie gewesen, die sich über ihn beugte, als er später aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war. Es war der Konteradmiral, der ihn, nachdem er und Richard vom Gewicht des herabrauschenden Großsegels und der vereinten Kraft der Crew an Deck der Yacht gezogen worden waren, in seine Achterkammer gebracht und sich dort persönlich um ihn gekümmert hatte, seine Schnitte und Prellungen verarztet und ihm sogar trockene Kleidung angezogen hatte. Ole war überrascht und gerührt von dem Maß an Wärme und Fürsorge, die von Wellersdorff ihm gegenüber gezeigt hatte.
Und trotzdem war er
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