Die Farbe der See (German Edition)
Reglosigkeit verdammt, zur gleichen Zeit jedoch in einem seltsamen Vakuum driftend. Nicht mehr in Gefangenschaft, aber alles andere als frei. Keinen Wind in den Segeln, keinen klaren Kurs und ohne festen Boden unter den Füßen.
Ole hob den Blick. Jenseits des Schärengürtels, wo die offene See sich zum Horizont hin erstreckte, gab es nichts mehr, woran sich das Auge noch hätte festhalten können. Nichts, bis auf das dunkel gekräuselte Schraubenwasser und den schwefelgelben, zäh in der Luft stehenden Schweif aus Dieselabgasen, die das Schnellboot auf seinem Weg nach Südwesten zurückgelassen hatte.
Heute Morgen, nach drei Nächten in der Festung, war von Wellersdorff auf das Schnellboot gebracht worden. Dieses hatte zwischenzeitlich ebenfalls den geschützteren Ankerplatz im Sund aufgesucht, und Ole hatte an den Aktivitäten der Crew erkennen können, dass das Auslaufen unmittelbar bevorstand. Als schließlich der Anker gelichtet wurde und der niedrige graue Bug sich dem offenen Meer zuwandte, hatte Ole von Wellersdorff noch einmal gesehen. Eingerahmt von zwei Bewachern hatte er auf dem Achterdeck des Schnellbootes gestanden, die Hand gehoben und zu ihm hinübergeblickt. Ole, an Deck der Skagerrak stehend, hatte zurückgewunken, obwohl er nicht sicher war, ob er sich den Gruß des Konteradmirals nicht nur eingebildet hatte. Vielleicht hatte er mit der Hand nur die grelle Sonne abgeschirmt, als er einen unweigerlich letzten Blick auf die Silhouette »seiner« Yacht geworfen hatte.
Nach der Abfahrt des Schnellbootes hatte Ole sich von Bord der Skagerrak geschlichen, was inzwischen ohne Probleme möglich war, da diese jetzt an der Pier der kleinen Werft lag. Er war mit der kleinen Dampffähre über den Sund gefahren und hatte den steinigen Weg um die Festungsmauern herum genommen. Von seinem alten Ausguck aus hatte er dem Schnellboot so lange nachgeblickt, bis es schließlich im Dunst auf der Kimm verschwunden war.
Ole wusste, dass er den Konteradmiral nicht mehr wiedersehen würde.
Plötzlich wurde er von einem unendlichen Gefühl der Einsamkeit übermannt. Wie ein Seemann, der nachts über Bord gefallen und dessen Schiff in der Dunkelheit verschwunden war: allein in einem schwarzen Meer treibend, ohne Hoffnung auf Rettung, und nur deswegen überhaupt noch den Kopf über Wasser haltend, weil es nichts anderes mehr zu tun gab, als noch ein bisschen weiterzuschwimmen.
In dieser Stimmung begann Ole seine Verluste zu zählen.
Der Konteradmiral, Rausch, der Professor. Weg. Tot, oder, in von Wellersdorffs Fall, so gut wie tot.
Lina. Ebenfalls verschwunden. Auch sie würde er wohl nicht wieder zu Gesicht bekommen. Das sagte ihm die unerbittliche Logik der Ereignisse. Die schwedische Polizei hatte so eng mit Korfmann und Strasser zusammengearbeitet, dass sie den Deutschen die Festung zur Verfügung gestellt und dort sogar Folterungen und Hinrichtungen geduldet hatten. Nein, Lina würde sofort von der Polizei verhaftet werden, sowie sie sich noch einmal in Marstrand blicken ließe.
Und dann Karl. Der lustige Karl Hohmeier, hemdsärmelig und mit rotem Haut-den-Lukas-Gesicht, immer darauf erpicht, irgendeinem Mädel zu imponieren. Ihn hatte Ole ebenfalls nicht mehr getroffen. Während seines unfreiwilligen Aufenthalts in der Festung waren die Kadetten mit einem Mannschaftswagen der schwedischen Polizei ins nahe gelegene Göteborg gebracht worden, von wo aus, das hatte Ole von einem der Schnellbootmänner erfahren, sie an Bord eines deutschen Erzfrachters in die Heimat zurückkehren würden. Die menschenhungrige Maschinerie des Krieges wartete bereits auf sie.
Auch Richard Korfmann war nicht mehr in Marstrand. Er war ebenfalls mit dem Schnellboot abgereist. Vermutlich wollte er wenigstens die Genugtuung haben, den Konteradmiral persönlich nach Berlin und vors Kriegsgericht zu bringen – wenn er schon in einem anderen entscheidenden Punkt versagt hatte: Es war ihm nicht gelungen, die verlorenen Pläne zu finden!
Zwei Tage lang hatten Strasser und ein gutes Dutzend Mann aus der Schnellbootbesatzung die Skagerrak, die dazu eigens an die Werftpier verlegt worden war, buchstäblich bis auf die Spanten auseinandergenommen, ohne etwas zu finden. Für den Fall, dass es dem Konteradmiral doch irgendwie gelungen war, die Pläne über Bord zu werfen, waren sogar drei schwedische Helmtaucher angeheuert worden, die mehrere Stunden lang den Meeresgrund rund um die Stelle absuchten, an der die Yacht zuvor geankert
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