Die Farbe des Himmels
Kleptomanin bist, oder?«
»Gott bewahre, nein!« Thea musste nun doch lächeln. »Am besten, ich zeige es dir.« Sie öffnete den Rucksack, zog das Wolltuch heraus und legte es auf den Schreibtisch.
»Was ist das?«
»Das ist eine Hälfte eines südamerikanischen Ponchos … Die zweite Hälfte liegt bei mir zu Hause«, erklärte Thea mit dem Mut der Verzweiflung.
Ströbele sah sie irritiert an. »Wie soll ich das verstehen?«
»Als ich als Baby ausgesetzt wurde, war ich in eine Hälfte dieses Ponchos gewickelt. Du weißt doch, dass ich ein Findelkind bin?«
»Du hast es mir mal erzählt, ganz am Anfang. Seit damals habe ich immer das Gefühl, dich beschützen zu müssen.«
»Ich habe meinen Ponchoteil bekommen, als ich das Kinderheim verlassen habe«, sprach Thea weiter. »Es liegt seit zwölf Jahren in meinem Schrank. Dazu gehört noch dieser handgeschriebene Zettel.« Sie gab Ströbele das zerfaserte Stück Papier, das an den Knickstellen vom vielen Auseinander- und Zusammenfalten ganz dünn geworden war.
Ströbele warf einen Blick darauf und gab ihn ihr zurück.
»Das ist alles, was ich von meiner Mutter habe«, sagte sie leise und überließ ihm das Kombinieren.
»Und die andere Hälfte des Ponchos hast du gestern bei der toten Antonia Linder gefunden?«
»Ja.«
»Und du bist ganz sicher, dass die beiden Teile zusammengehören?«
»Ich habe sie gestern Abend verglichen.« Thea stand auf und ging nervös in dem kleinen Büro auf und ab. »Ich habe sie nebeneinander gelegt und mir die Ränder angeschaut. Ich meine, wie viele südamerikanische Ponchos mit demselben Muster gibt es in Stuttgart schon? Und wie viele davon wurden halbiert?«
»Gib mir noch einmal den Zettel«, bat er.
Das Telefon läutete, und Ströbele ging ran. »Ja, ich komme gleich.« Er nahm Thea das Papier aus der Hand und hielt es unter seine Schreibtischlampe. »Die Schrift ist zwar verblasst und abgegriffen, aber noch gut zu erkennen. ›Sie heißt Theresa. Bitte seien Sie gut zu ihr‹«, las er laut.
»Du denkst an den Brief, den Antonia Linder an Hauser geschrieben hat, stimmt’s?«, fragte Thea.
»Es liegen dreißig Jahre dazwischen.« Ströbele blickte Thea ernst ins Gesicht. »Aber die Schrift ist sehr ähnlich.«
»Das denke ich auch.« Theas Herz klopfte so stark, dass sie die Hand darauf legen musste. »Professor Krach hat von Antonia Linders Leiche doch Blut sichergestellt?«
»Ja, für die DNA-Analyse. Willst du einen Vergleich machen lassen?«
Thea nickte zögernd. Vor einigen Monaten waren sie alle wenig begeistert gewesen, als es hieß, sämtliche Beamte der Mordkommission sollten ihre DNA abgeben. Hintergrund dieser Aktion war die Tatsache gewesen, dass in der Vergangenheit oft nicht zuordenbare Tatortspuren auf versehentlich gelegte Spuren der Kripobeamten zurückzuführen waren. Damals hatten die meisten zwar die Notwendigkeit dieser Maßnahme eingesehen, sie aber trotzdem als einen Eingriff in ihre Privatsphäre empfunden. Jetzt war Thea zum ersten Mal froh, dass ihre DNA schon aufgeschlüsselt war. Das würde Zeit sparen.
Ströbele ließ sich auf dem Bürostuhl nieder, der unter seinem Gewicht mit einem Ruck mindestens zwanzig Zentimeter nach unten schoss.
»Ich kriege noch mal einen Herzinfarkt mit diesem Scheißding!«, fluchte er. »Irgendwas stimmt nicht mit der Arretierung. Du darfst nicht glauben, dass mir der Staat einen neuen spendiert. Ich hab schon überlegt, ob ich diesen Stuhl Micha unterjubeln soll und mir heimlich seinen nehme.« Er zwinkerte Thea verschmitzt zu.
»Lass mich mal schauen, vielleicht kann man das reparieren«, gab sie zurück.
»Du kannst Bürostühle reparieren?«, wunderte sich Ströbele.
»Allein stehende Frauen können so ziemlich alles«, entgegnete Thea und ging auf die Knie. »Siehst du, die Schraube hier ist locker. Sie hat keinen Halt, weil die Mutter fehlt.« Thea hielt plötzlich inne. Da war etwas wie ein Echo in ihrem Kopf: Keinen Halt, weil die Mutter fehlt. Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie blieb unbeweglich am Boden hocken und versuchte, die Fassung wiederzuerlangen.
»Was ist los? Hast du einen Hexenschuss?« Ströbele kniete sich schwerfällig neben ihr nieder. »Aber du weinst ja! Mädchen, das ist alles zu viel für dich. Nimm heute frei. Morgen sieht bestimmt alles viel besser aus.«
Thea schüttelte energisch den Kopf. »Es wird nie mehr besser. Wenn dieser DNA-Test positiv ausfällt, dann weiß ich definitiv, dass meine Mutter
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