Die Farben der Finsternis (German Edition)
müde, und das Krankenhaus und die Leiden der Armen hatten etwas Schmuddeliges, das auf jeden abfärbte, der dort arbeitete. Wahrscheinlich ging es ihr ähnlich. Im Gegensatz zu anderen Krankenhäusern im Land waren hier nur sehr wenige Ärzte mit Krankenschwestern liiert. Wenn man mit jemandem schlafen wollte, dann doch lieber an einem saubereren Ort, weit weg vom Schmutz der Notaufnahme.
Andererseits drohte sein Privatleben wirklich einzuschlafen. Zum ersten Mal merkte er, dass er älter wurde. Er war so erschöpft, nicht unbedingt körperlich – auch wenn er es deutlich zu spüren bekam, dass er den ganzen Tag auf den Beinen war –, sondern mental und emotional. In der Notaufnahme konnte man immer schon wie auf einer Bühne erleben, was die Gesellschaft als Ganzes quälte, und das Land war heutzutage in einem fürchterlichen Zustand. Der Virus war weiter auf dem Vormarsch und streckte seine todbringenden Fühler schon nach den besseren Schichten und glücklich Verheirateten aus, die sich vor dem Ursprungsvirus HIV sicher gewähnt hatten. Diewichtige Botschaft der 1980er-Jahre hatten sie verdrängt – nämlich ein Kondom zu benutzen – und weiter daran geglaubt, dass Liebe und Treue Hand in Hand gingen. Tb und Hepatitis hielten sich konstant im Schlepptau ihres aggressiveren Kollegen. Heute arbeiteten Geschäftsfrauen als Callgirls, um das Darlehen auf ihr Haus abzuzahlen, das sie nicht verkaufen konnten, während die Männer in den Unternehmen anfingen zu trinken. Dazu kamen die üblichen Junkies, die Dealer und die Kleinkriminellen. Die Notaufnahme quoll über von Menschen, die zu einem Arzt gehört hätten, die Rechnung aber nicht bezahlen konnten. Vielleicht hofften sie, dass die Zeit ihre Krankheiten heilen würde. Doch das war nicht der Fall, dachte Dr. Gibbs traurig. Das Leben selbst setzte ihnen zu, dieses harte Dasein und sein unvermeidbares Ende.
Es regnete; die Tropfen fielen in einem stetigen sanften Rhythmus, doch er ging nicht schneller – Dr. Gibbs fand den Regen erfrischend und er half ihm, die dunklen Schatten zu vertreiben, die ihn marterten. So finster war ihm sonst nicht zumute. Im Gegenteil, gerade weil er von Natur aus optimistisch war, hatte er sich entschieden, hier zu arbeiten. Der Besuch des Polizisten machte ihm Sorgen und er hatte ihn daran erinnert, wie ruhig es in den paar Monaten seines Dienstes auf der Flush5-Station zugegangen war. Möglicherweise hätte er doch im privaten Sektor weiterarbeiten sollen – dann wären die letzten zehn Jahre mit Sicherheit anders verlaufen.
Sein Auto stand auf der anderen Seite des weitläufigen Parkplatzes, weit entfernt von den Parkscheinautomaten, die Besucher wie Patienten mit Münzen füttern mussten, wenn sie ohne öffentliche Verkehrsmittel zum Krankenhaus kamen. Das war äußerst schäbig von einem Krankenhaus, das die Regierung ständig als positives Beispiel dafürhochhielt, dass ihr die Armen, Schwachen und von der Gesellschaft Vergessenen noch immer am Herzen lagen.
Das Problem war, dass es nicht mehr zählte, ob Menschen in höchster Not waren, wenn alle anderen ebenfalls ums Überleben kämpften. Wenn ein normaler Busfahrer für seine medizinische Versorgung zahlen musste, warum dann nicht auch alle anderen? So sah es in den Augen der Welt aus. Barmherzigkeit fing jedenfalls nicht vor der eigenen Haustür an. Bald würden auch die Rettungsdienste gesetzlich Versicherte nicht mehr versorgen, obwohl die meisten bereits private Zusatzversicherungen abgeschlossen hatten, die ihnen mehr als einen Besuch beim Hausarzt garantierten. Dr. Gibbs konnte es ihnen nicht verübeln – er wäre selbst nicht gern gesetzlich versichert gewesen. Sogar bei einem Unfall würde er immer eine private Notaufnahme ansteuern; mit Kreditkarte konnte man es sich aussuchen.
Er kramte in der Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Menschen in Not musste geholfen werden, daran wollte er festhalten. Die meiste Zeit war nicht viel dabei, aber es gab eben auch diese magischen Augenblicke in der Medizin, wenn man das Leben eines Menschen in der Hand hatte und merkte, dass das Zünglein an der Waage in die richtige Richtung ausschlug. Schlimmer geht immer, dachte er. Das war auch so eine Lektion, die man in der Notaufnahme der Gesetzlichen gratis bekam.
Sein schäbiger Ford Focus leuchtete auf, als er den Türöffner drückte, und Dr. Gibbs ging endlich schneller, als der Regen stärker wurde und härter auf den Asphalt trommelte. Er wollte gerade am Türgriff
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