Die Farben der Freundschaft
aber mir ist nichts eingefallen, und kaum kommst du herein, schon habe ich einen Titel.« Schnell schrieb er mit einem großen Filzstift auf die Rückseite des Bilderrahmens: Titel: Keine Stimme.
Ich lächelte, und er legte mir liebevoll den Arm um die Schulter. »Du inspirierst mich, Ruby. Wusstest du das?« Er zeigte mit der freien Hand auf ein anderes Bild, das auf dem Boden lag. »Wenn du willst, kannst du mir mit dem da helfen.«
Ich hielt das Bild, während Julian es mit Luftpolsterfolie umwickelte. Es war eine Ansicht von Soweto, aus der Ferne betrachtet, und um seine Grenzen herum hatte er in dicker kindlicher Schrift etliche Wörter geschrieben. Alle Wörter waren schwarz durchgestrichen, aber noch gut lesbar. Nur ein einziges Wort war ohne schwarzen Strich geblieben. Es war das Wort SOuth WEstern TOwnships – SOWETO.
»1959 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, um einen Namen für diese neu gegründete Siedlung für Schwarze außerhalb von Johannesburg zu finden. Nach vierjährigen Diskussionen einigte sich das Komitee, das ausschließlich aus Weißen bestand, endlich auf SOWETO –, nach den Worten South Western Township – aber es waren auch viele andere Namensvorschläge eingereicht worden.« Julian nahm das inzwischen verpackte Bild und lehnte es behutsam an die Wand zu den anderen. »Die wurden aber alle verworfen, weil sie zum größten Teil von Schwarzen eingeschickt worden waren, dabei lebten die doch in der Township. Ihre Vorschläge sind die durchgestrichenen Wörter auf meinem Bild. Verstehst du?«
Ich nickte.
» Thari ’Ntshu – Die Schwarze Nation. Khethollo – Rassentrennung.« Julian kam mit einem anderen Bild an, das noch verpackt werden musste. »Und dann mein Lieblingsname, der aber nie gewählt worden wäre: Thinavhuyo . Das bedeutet: ›Wir haben keinen Ort‹.«
Ich hätte ihm gern gesagt, wie sehr mir das Bild gefiel, aber ich konnte nur lebhaft mit dem Kopf nicken.
»Es war auch ein Name auf Afrikaans dabei, über den sie ernsthaft nachdachten. Es war das Wort vergenoeg . Du weißt, was das heißt?«
Ich griff nach dem schwarzen Filzstift, den Julian in der Hand hatte, und kritzelte die Übersetzung auf meinen Handrücken: »Weit genug«. Dann zog ich die Schultern hoch, wie um zu sagen: »Warum das?«
»Ah, Ruby, es bedeutet, weit genug weg von uns Weißen in Johannesburg. Weit genug, damit wir nicht irgendwie von eurer Schwärze beschmutzt werden. Gerade so weit, dass ihr mit dem Zug oder dem Bus zum Arbeiten in die Innenstadt von Johannesburg fahren könnt, aber wohnen werdet ihr weit genug entfernt, damit wir nicht euer Essen riechen und eure Eingeborenensprachen hören müssen und nicht vom Geplärr eurer Babys belästigt werden.«
Ich schüttelte empört den Kopf.
»Vergenoeg« , sagte Julian leise und seufzte.
Ich wollte ihm deutlich machen, wie genial ich ihn fand und wie sehr sich alle auf die Ausstellung freuten, doch dann entschied ich mich für eine Mitteilung, die ihm vielleicht wichtiger als alles andere sein würde. Auf dem einzigen Tisch im Atelier fand ich einen Notizblock. Er war mit Wörtern und Skizzen bedeckt, und ich blätterte so lange, bis ich ein freies Blatt fand. Schnell schrieb ich meinen Satz hin und gab Julian die Seite.
Er las laut: »Vater sagt, du bist Mutters talentiertester Künstler. Und das finde ich auch!« Er blickte noch eine Weile auf die Worte, dann faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn sorgfältig in die Hosentasche. »Danke, Ruby. Das ist sehr lieb von deinem Vater und dir. Es bedeutet mir viel, weil ihr mir viel bedeutet. Ich werde diesen Zettel gut aufbewahren, als Stütze, wenn ich wieder mal am Sinn meines Lebens auf dieser Welt zweifle.«
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir mit Einpacken, wobei Julian von der leidenschaftlichen Liebe zu seinen Bildern sprach und bei jedem Einzelnen erklärte, warum er es gemalt hatte. Ich hörte Mutters Wagen in die Einfahrt biegen, unmittelbar gefolgt vom Geräusch eines zweiten Autos, und ich nahm an, es wäre Dashel, der die verpackten Kunstwerke abholen und zur Galerie bringen wollte. Als wir beim letzten Bild waren – es hatte den Titel Die Hoffnung der Unterdrückten –, klopfte es an der Tür, und Julian ging hin, um zu öffnen.
»Verzeihung, ich suche Ruby. Ihre Mutter meinte, sie sei vielleicht hier.«
Das war unverkennbar Johanns Stimme.
»Ja, sie ist da«, sagte Julian ruhig und hielt Johann die Tür auf.
Ich rappelte mich aus meiner gebückten Stellung
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