Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
ist, also die Herrin von ihr machte eine Seance, und da schwebte eine Trompete direkt über dem Tisch und spielte: ›Wie senken sich die Schatten der Nacht‹.«
    »Ich weiß nicht, ob Trompeten dabei sein werden«, sagte ich. »Baine hat soviel mit Count de Vecchios Gepäck zu tun, deshalb will ich ihn nicht stören. Ich brauche zwei Drähte, ungefähr… so lang.«
    »Sie können ein Stück Zwirn kriegen«, sagte sie. »Reicht das?«
    »Nein«, entgegnete ich. Warum hatte ich nicht Baine gebeten, einfach etwas Draht aus Madame Iritoskys Koffer zu entwenden? »Es muß Draht sein.«
    Jane öffnete eine Schublade und wühlte darin. »Ich hab’ nämlich das zweite Gesicht, Sorrr. Wie meine Mutter auch.«
    »Mmh«, sagte ich. In der Schublade sah ich eine Unmenge unbekannter Gegenstände, aber keinen Draht.
    »Als Sean sich damals das Schlüsselbein brach, sah ich das alles in einem Traum vorher, Sorrr. Wenn etwas Schlimmes bevorsteht, krieg’ ich immer so ein komisches Gefühl im Magen.«
    Etwas Schlimmes wie diese Seance? dachte ich.
    »Vergangene Nacht, Sorrr, träumte ich von einem großen Schiff. Passen Sie auf, hab ich zur Köchin gesagt, jemand im Haus macht demnächst eine Reise. Und heut’ mittag kommt diese Madame hier an und auch noch mit dem Zug! Meinen Sie, es gibt eine Erscheinung heut’ abend?«
    Hoffentlich nicht, dachte ich, obwohl man sich bei Verity nicht sicher sein konnte. »Was haben Sie denn jetzt genau vor?« fragte ich sie, als sie kurz vor dem Abendessen zurückkam. »Sie werden sich doch nicht etwa in Schleier hüllen oder irgendsowas?«
    »Nein«, flüsterte sie mit Bedauern in der Stimme. Wir standen vor den Verandatüren, die zum Salon führten, und warteten darauf, daß zum Abendessen gerufen wurde. Drinnen saß Mrs. Mering auf dem Sofa und wärmte mit Tossie zusammen noch einmal den akustischen Eindruck von Cyrils nächtlicher Schnarchorgie auf – »Der Schrei einer aufs Blut gequälten Kreatur!« –, während sich Professor Peddick und der Colonel Mering am Kamin mit Angelgeschichten beschäftigten. Wir mußten uns also leise unterhalten. Von Madame Iritosky und Count de Vecchio war noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich »ruhten« sie noch. Ich hoffte, sie hatten Baine nicht beim Aus- und Einpacken erwischt.
    »Ich denke, wir sollten so simpel wie möglich vorgehen«, sagte Verity. »Haben Sie die Drähte?«
    »Ja.« Ich zog sie aus der Jackentasche. »Nachdem ich mir anderthalb Stunden Janes Erfahrungen mit dem zweiten Gesicht angehört habe. Wozu sollen die gut sein?«
    »Zum Tischerücken natürlich«, sagte Verity und stellte sich so, daß wir von drinnen nicht gesehen werden konnten. »Machen Sie in jeden Draht eine Schlinge und stecken Sie sich, bevor die Seance beginnt, einen Draht in jeden Ärmel. Wenn die Lichter aus sind, ziehen Sie die Drähte bis über das Handgelenk heraus und verhaken sie unter der Tischkante. Auf diese Weise können Sie den Tisch anheben und gleichzeitig die Hände Ihrer Nachbarn halten.«
    »Den Tisch anheben?« Ich steckte die Drähte wieder in meine Jacke. »Welchen Tisch? Diesen massiven Rosenholztisch im Wohnzimmer? Kein Draht der Welt kann dieses Ding hochheben.«
    »Doch«, sagte Verity. »Es beruht auf dem Prinzip der Hebelwirkung.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Aus einem Detektivroman.«
    Das hätte ich mir denken können. »Und wenn mich jemand dabei ertappt?«
    »Es wird Sie keiner ertappen. Es ist dunkel.«
    »Und wenn jemand verlangt, man solle das Licht anmachen?«
    »Licht hält die Geister davon ab, sich zu materialisieren.«
    »Wie passend«, sagte ich.
    »Sogar sehr passend. Sie erscheinen auch nicht, wenn ein Zweifler anwesend ist. Oder wenn irgend jemand das Medium oder eine andere Person im Kreis stört. Also wird Sie niemand ertappen, wenn Sie den Tisch anheben.«
    »Falls ich ihn anheben kann. Dieser Tisch wiegt eine Tonne.«
    »Miss Climpson schaffte es. In Tödliches Gift. Sie mußte es. Lord Peter wurde die Zeit knapp. Uns geht’s genauso.«
    »Haben Sie mit Finch gesprochen?«
    »Ja. Ich habe ihn schließlich doch noch erwischt. Ich mußte den ganzen Weg zur Bakerfarm laufen, wo er gerade Spargel einkaufte. Was hat er bloß vor?«
    »Und die Zahl ist eindeutig eine Fünf?«
    »Es war keine Zahl. Es war ausgeschrieben. Und es gibt keine andere Zahl mit zwei F’s und einem Ü. Es war eindeutig der fünfzehnte Juni.«
    »Der fünfzehnte Juni«, sagte Professor Peddick vom Herd her. »Der Abend der Schlacht von Quatre Bas

Weitere Kostenlose Bücher