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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Geschichte ein chaotisches System ist) sich gegenseitig aufhoben. Das Militär war zu dem Schluß gekommen, daß der Hauptangriff London gelten würde, egal, was der Geheimdienst sagte, und die Flugzeuge entsprechend eingesetzt, doch die Versuche, die feindlichen Leitstrahlen zu stören, waren wegen eines Fehlers in den Berechnungen gescheitert.
    Geheimnisse sind jedoch stets kritische Ereignisse. Ein einziges falsches Wort nach außen konnte die Sicherheit des ganzen Geheimdienstes gefährden. Und falls nur eine einzige Kleinigkeit die Nazis mißtrauisch gemacht hätte, zum Beispiel, daß die Kathedrale wie durch ein Wunder gerettet worden oder die gesamte Royal Airforce über Coventry aufgetaucht wäre oder auch wenn jemand darüber gesprochen hätte – »Achtung, Feind hört mit!« –, würden sie mit Sicherheit ihre Kodes geändert haben. Und wir hätten die Schlacht von El Alamein und um den Nordatlantik verloren. Und den Zweiten Weltkrieg.
    Was erklärte, warum Carruthers, der neue Rekrut, und ich im Schutt und in den Gemüsekürbisfeldern gelandet waren. Um einen kritischen Punkt herum kann sogar die kleinste Aktion eine Wichtigkeit erreichen, die in keinem Verhältnis zu ihrer Größe steht. Die Konsequenzen vervielfältigen sich und werden zur Kaskade, und alles – ein nicht geführtes Telefongespräch, ein Streichholz, das während der Verdunkelung angezündet wird, ein fallengelassenes Stück Papier – kann welterschütternde Folgen haben.
    Der Chauffeur von Erzherzog Ferdinand bog versehentlich in die Franz-Josef-Straße ein und löste damit einen Weltkrieg aus. Abraham Lincolns Sekretär ging ins Freie, um eine Zigarette zu rauchen und zerstörte damit einen Frieden. Hitler erteilte den Befehl, wegen seiner Migräne nicht gestört zu werden und erfuhr dadurch achtzehn Stunden zu spät von der Invasion der Alliierten in der Normandie. Ein Leutnant versäumte, ein Telegramm mit dem Vermerk »Wichtig« zu versehen, und Admiral Kimmel wurde nicht rechtzeitig von dem bevorstehenden japanischen Angriff unterrichtet. ›Weil ein Nagel fehlte, ging das Hufeisen verloren, konnte das Pferd nicht weiter, kam der Reiter nicht an, erreichte die Nachricht nicht ihr Ziel.‹
    Und um diese Angelpunkte herum gab es erhöhte Schlupfverluste und Netze, die sich nicht öffneten.
    Was hieß, daß Muchings End kein Krisenpunkt war und die Katze den Lauf der Geschichte nicht verändert hatte, vor allem, weil es nur ein paar Minuten Verlust gebraucht hätte, um die Sache zu verhindern. Verity mußte deshalb nicht in Bozeman, Montana, enden. Wäre sie fünf Minuten später angekommen, wäre die Katze bereits untergegangen gewesen. Fünf Minuten früher, und Verity hätte sich im Haus befunden und von allem nichts mitbekommen.
    Außerdem handelte es sich hier um nicht die Katze von Königin Victoria (trotz ihres Namens) und auch nicht um die von Gladstone [38] oder Oscar Wilde. An dem Ort, an dem sie sich befand, konnte sie nur schwerlich die Weltgeschichte beeinflussen. Außerdem war 1888 kein kritisches Jahr. Der Aufstand in Indien hatte 1859 geendet, und der Burenkrieg begann erst in elf Jahren. »Und es ist nur eine Katze«, sagte ich laut.
    Cyril schaute alarmiert auf.
    »Nicht hier«, erklärte ich. »Sie ist bestimmt schon wohlbehalten zurück in Muchings End.« Trotzdem erhob sich Cyril und schaute sich wachsam um.
    »Nein! Dieebe, nicht Siebe!« gellte Terences Stimme zu uns herüber. »Dieebe!«
    Der Schleusenwärter winkte verdrießlich ab und verschwand im Schleusenwärterhäuschen.
    Terence eilte zu uns herüber. »Wer immer das Boot nahm«, sagte er, »muß es flußabwärts geschafft haben. Der Schleusenwärter zeigte in diese Richtung.«
    Ich war mir da nicht so sicher. Es war mir eher so vorgekommen, als bedeutete die Geste: »Jetzt reicht’s mir aber!« oder »Hauen Sie endlich ab!« Und die entgegengesetzte Richtung war besser dazu geeignet, Terence von Tossie fernzuhalten.
    »Glaubst du wirklich?« fragte ich. »Ich dachte, er wiese flußaufwärts.«
    »Nein«, sagte Terence, schon wieder halb über der Brücke. »Flußabwärts. Ich habe es genau gesehen.« Und blitzartig verschwand er in Richtung Treidelpfad.
    »Besser, wir beeilen uns auch«, sagte ich zu Cyril. »Sonst holen wir ihn nicht mehr ein.« Wir eilten ihm nach, an verstreut liegenden Bauernhäusern und einer Reihe hoher Pappeln vorbei einen kleinen Hügel hoch, von dem aus wir einen großen Teil des Flusses überblicken konnten. »Glaubst du

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