Die Farben des Chaos
Tante?«, fragte Layel an Cerryl gewandt. »Sie hat Euch doch aufgezogen, wie ich hörte?«
»Tante Nall?« Cerryl überlegte, bevor er nachdenklich antwortete. »Sie wollte nur mein Bestes, aber sie wollte nicht, dass ich Magier würde. Im Haus gab es kein Glas und keinen Spiegel. Sie sagte immer, Glas sei etwas für die feinen, mächtigen Leute aus Fairhaven.« Er lächelte belustigt und hob sein Weinglas. »Jetzt bin ich hier und fühle mich alles andere als fein und mächtig.«
»Ich wünschte, es gäbe in den Hallen noch mehr, die so fühlen wie Ihr. So viel sie auch für Candar und die Stadt getan haben, letzten Endes sind die Magier doch nicht mehr als ganz gewöhnliche Leute mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.« Layel nahm das letzte Hühnerbein in die Hand und begann zu kauen.
Ganz gewöhnliche Leute mit außergewöhnlichen Fähigkeiten? Cerryl lächelte, als ihm klar wurde, wie sehr sich Anya und Jeslek über diese Worte aufgeregt hätten … und wie sehr Kinowin sich amüsiert hätte.
Als die drei ihr Mahl beendet hatten, räumte Meridis das Geschirr ab und kehrte mit drei Tellern Nachtisch zurück, der an Pudding erinnerte.
»Brotpudding … gut …«, meinte Layel lächelnd.
Leyladin nahm sich nur eine kleine Portion und legte gleich wieder den Löffel weg.
Auch Cerryl kostete zunächst vorsichtig die Kombination von Gewürzen und saftigem, gesüßtem Brot. Dann langte er gleich noch einmal zu.
»Na bitte, sogar die Weißen Magier mögen Brotpudding«, meinte Layel, als er aufgegessen hatte.
»Nicht alle Magier«, erwiderte Leyladin. »Für diesen hier ist er zu süß.«
»Oh, für etwas Süßes bin ich eigentlich immer zu haben«, gestand Cerryl, worauf er und Leyladin fast gleichzeitig erröteten.
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, gab Layel zurück.
Leyladin schüttelte den Kopf. »Ihr … ihr Männer.«
Cerryl aß seinen Pudding auf, ohne ihren Blick zu erwidern. »Er ist wirklich gut.«
»Beim nächsten Mal darfst du den Nachtisch aussuchen, meine Tochter, aber ab und zu sollte auch mal dein Vater entscheiden dürfen.«
»Ja, mein Vater.«
Zufrieden, gut gesättigt und entspannt, musste Cerryl gähnen. Erschrocken schloss er den Mund.
»Das habe ich gesehen«, sagte Leyladin. »Wann musst du aufstehen?«
»Vor der Morgendämmerung«, gestand er.
Sie blickte zum Fenster. Draußen, hinter den mit Blei gefassten Scheiben, war es inzwischen stockdunkel. »Du musst jetzt gehen.«
»Ja, muss ich wohl.«
»Ich bin sicher, dass Ihr noch oft kommen werdet, Cerryl«, sagte Layel, indem er zusammen mit Leyladin aufstand. »Meine Tochter zieht Eure Gesellschaft der meinen bei weitem vor.«
»Sie hat sich aber oft sehr wohlwollend über Euch geäußert«, ächzte Cerryl, während er sich von dem mit Samt gepolsterten Stuhl aus weißer Eiche erhob.
»Ich wünschte, sie würde das mal in meiner Gegenwart tun.« Layel lächelte seine Tochter liebevoll an.
»Oh, Vater …«
»Verabschiede dich nur von deinem Magier, meine Liebe.«
Leyladin begleitete Cerryl durchs Wohnzimmer und den Flur bis zum Vorraum, wo sie ihm die Tür aufhielt.
»Danke. Es war ein wundervolles Abendessen«, sagte Cerryl. »Und ich habe wie jedes Mal auch heute von deinem Vater einige Dinge erfahren, die für mich neu waren.«
»Du kannst eben zuhören«, erwiderte Leyladin lächelnd.
»Wirst du noch eine Weile in Fairhaven bleiben?«
»Ich hoffe es.«
»Ich auch.« Und ob!
»Ich werde da sein.« Sie beugte sich vor und umarmte ihn, dann gab sie ihm einen sanften Kuss auf den Mund.
Seine Lippen kribbelten – waren es seine Gefühle oder das Wechselspiel von Ordnung und Chaos?
»Beides«, antwortete sie, indem sie sich ein wenig zurückzog.
»Beides?« Er schüttelte den Kopf.
»Wenn wir uns so nahe sind, kann ich fast spüren, was du denkst. Deshalb brauchen wir noch etwas Zeit.« Sie lächelte ihn warm an. »Gute Nacht, Cerryl.«
Als er durch den Regen, der schon seit einer Weile fiel und ihm wie immer leichte Kopfschmerzen beschert hatte, zu den Hallen der Magier zurückkehrte, wurde ihm klar, was sie nicht ausgesprochen hatte. Wenn sie sich noch näher kamen, würde er nicht mehr wie Jeslek oder Anya oder die meisten anderen Weißen Magier mit dem Chaos umgehen können. Wahrscheinlich musste er noch besser darin werden, das Chaos völlig aus seinem Körper herauszuhalten.
Konnte er das schaffen? Als Magier der Stadtwache? Konnte das überhaupt ein Weißer Magier schaffen? Ohne sich dabei dem Grau
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