Die Farben des Feuers: Historischer Roman (German Edition)
Stell dir das mal vor, Agnes. Und davon gibt es jede Menge – Männer mit einem teuflischen Charakterzug, die eine Vorliebe für Grausamkeiten haben. Und wenn eine Handvoll von diesen Männern auch noch das Gesetz auf ihrer Seite hat, wird das schamlos ausgenutzt. Es gefällt ihnen, ein junges, blasses Frauengesicht an einem Seil baumeln zu sehen. Sie möchten das regelmäßig genießen und sorgen deshalb bei jeder Sitzung des Gerichtes für Verurteilungen. Sie sehen es als selbstverständlich an – so wie manche Menschen Freude an einem Spaziergang im Park haben. Glaub mir, schon allein das Wort Hinrichtung erzeugt bei ihnen einen kleinen Schauder des Entzückens. Ich habe schon viele Männer bei dem Gedanken, eine Frau zum Tode zu verurteilen, vor Vergnügen stöhnen hören.«
»Ich werde es einem Geistlichen erzählen«, sage ich und denke an Reverend Lindsay von der Pfarrei St. Stephen mit seinem offenen, freundlichen Gesicht.
Sie schaut mich ungläubig an. »Das kannst du am Galgen tun, Agnes, denn dort wirst du Geistliche vorfinden, die dem Ganzen einen Hauch von Heiligkeit verleihen, indem sie den Verdammten etwas vorbeten, um sie auf dem Weg zu einem höheren Gericht zu retten. Eine Schande, Schätzchen, dass sie sich stattdessen ihren Atem nicht aufsparen, um die verdorbenen Seelen jener zu retten, die ihre Macht so ausnutzen.« Sie blickt die Straße hinunter. »Nein, Agnes, nimm dein Leben in die Hand, so, wie es ist, und mach dich damit auf den Weg.«
Sie kommt mir dünner vor als an dem Tag, an dem ich sie auf der Kutsche getroffen hatte, und sie erwidert meinen Blick nicht oft. Die Lebensfreude ist aus ihren Augen verschwunden, obwohl sie noch genauso blau sind. Sie scheint weniger Substanz zu haben, nicht so sehr körperlich – es ist, als wäre ihre Seele selbst kleiner geworden, gedemütigt. Es gefällt mir nicht, sie so zu sehen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Und du, geht es dir gut?«, frage ich sinnloserweise, als die Geräusche des Verkehrs einen Moment lang abnehmen. Ihre Miene hellt sich auf, als sie ihren Körper strafft und mit einer Hand ihre Seidenröcke glättet, die wie das Fell einer Tigerkatze schimmern und fließen.
»Oh, es geht mir nicht so schlecht!« Und ihr Lachen klingt fest wie an dem Tag, an dem ich sie kennengelernt habe. »Mein Schicksal hat sich zum Besseren gewendet – sicher wird es auch bei dir so kommen, Agnes –, nachdem ich einen Weg gefunden habe, mir alles vom Leben zu nehmen, was ich kann. Ich bedaure nichts, was ich getan habe. Ich habe mir selbst Fertigkeiten beigebracht, vor denen die meisten zurückschrecken würden, und sie dann schamlos angewendet. Aber ich habe immer selbst bestimmt, wie ich lebe.«
»Besuch mich doch einmal«, ruft sie über den Lärm einer vorüberfahrenden Droschke hinweg, und ich sage, dass ich das tun werde, obwohl ich weiß, dass es nicht so sein wird. Dann umarmt sie mich, so leicht, dass ihre feinen Kleider mich kaum streifen. Und als sie meine Hand zum Abschied berührt, entdecke ich einen Bluterguss rund um ihr Handgelenk, als wäre eine Schnur oder ein Seil darum gewunden worden. Sie zuckt zurück, als ich die Hand ausstrecke.
»War er das? Dieser Soldat?«
Lettice Talbot schüttelt den Kopf und lächelt mich an, als wäre es belanglos. Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe.
»Geh zu dieser Frau«, drängt sie mich. »Es ist keine schwierige Sache, aber es ist auch nicht einfach. Es ist schmerzhaft, und es ist gefährlich.« Sie zuckt leicht mit den Schultern. »Aber Gefahren gibt es immer. Man wägt nur einfach eine Gefahr gegen eine andere ab.« Sie hebt ihre lederne Reisetasche auf, und dann verlässt sie mich. Sie verschwindet in der Menge, die sich um einen Jongleur an der Ecke der King Street versammelt hat. Die Menschen rufen und klatschen.
Als sie fort ist, hängt immer noch ein Hauch ihres süßen Duftes in meinen Kleidern. Erst am Abend lässt er allmählich nach.
32
Ich betrachte immer wieder den Zettel, bis er in meiner Hand ganz weich geworden ist. Und dann gehe ich zur Adresse der Frau am Rand von St. Giles. Sie ist nicht schwer zu finden.
Ein mürrisches Dienstmädchen schlurft vor mir her und führt mich in eine Kammer im unteren Stockwerk. Die Frau ist zu Hause. »Eins von Mrs. Brays Mädchen, Madam«, nuschelt das Mädchen und lässt mich mit ihr allein. Dilly Martinments Kinn springt auf eine eigentümliche Weise hervor, ihre Handflächen sind schmal wie die Pfoten eines
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