Die fernen Tage der Liebe
er von Hölzchen auf Stöckchen kam, ohne
dass man ihm noch folgen konnte. Aber um diese Zeit hatte sie darauf nun wirklich keine Lust. Und erst recht hatte sie keine
Lust darauf, dass er ihr erzählte, wie ähnlich sie ihrer Mutter sei. Sie war nicht ein bisschen wie ihre Mutter. Wenigstens
das hätte er doch inzwischen begreifen müssen.
»Mein Gott! Was war sie wundervoll.«
Alles klar, dachte April. Er meinte gar nicht ihre Mutter, sondern ihre Großmutter. Als Nächstes kam dann gleich wahrscheinlich
etwas über Korea oder einen seiner sagenhaften Geschäftsabschlüsse. Und von da an konnte es in jede Richtung weitergehen.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte ihr Großvater.
»Doch doch, ich höre zu«, antwortete April. »Soll das heißen, dass ich besonders schön bin?«
Sie wurde rot. Bevor sie das gesagt hatte, hatte sie seine Worte überhaupt nicht auf sich bezogen.
»Nein, das soll es nicht heißen. Es soll heißen, dass sie einen erstklassigen Detektor für Bockmist hatte. Sie roch jeden
Blender schon auf eine Meile Entfernung. Und wer sich bescheuert aufführte, der hatte nichts zu lachen. Sie wusste schon,
wie man die Leute von ihrem hohen Ross herunterholte.«
»Dich zum Beispiel?«, fragte April, die immer noch rot war, aber inzwischen aus Wut. Sie versuchte so zu tun, als bemerkte
sie nicht, dass er ihren Blick suchte.
»Mich zum Beispiel«, bestätigte er leise.
Er wandte sich ab und schloss die Augen. April dachte, er sei eingeschlafen. Sie holte ihren Stift und das Notizbuch hervor.
Dann hörte sie auf den Rhythmus der Gleise.
Riding, riding, riding
Riding the rails
Whatever happens
I will not fail.
Riding riding riding
Riding the rails
Listening to that lonely
Oh so lonely wail.
Sie las den Text noch einmal durch und hatte schon den Bleistift gezückt, um alles wieder durchzustreichen. Noch so ein beschissener
Song. Was bildete sie sich eigentlich ein? Sie hatte einfach kein Talent zum Singen. Und auch nicht als Songwriterin. Das
Einzige, was sie konnte, war, irgendwelche Leute zu bewundern, die tatsächlich ihr Leben in die Hand nahmen und was daraus
machten.
Trotzdem strich sie die Wörter nicht durch. Nicht so vorschnell, sagte sie sich.
»Die Jungs in deinem Alter tun mir leid«, meldete ihr Großvater sich plötzlich. Offenbar war er doch nicht eingeschlafen.
Sie blickte hinüber und klappte schnell ihr Notizbuch zu. »Und wieso, Grandpa?«
»Weil du, wenn du erst mal eine Frau bist, April, einfach wundervoll sein wirst. Und wenn du nicht nur umwerfend aussiehst,
sondern auch noch diesen eingebauten Bockmist-Detektor hast … oha, da wird es eine Menge enttäuschter junger Burschen geben.«
Er streckte den Arm aus und tätschelte ihre Hand.
Zehn Minuten später fragte er sie, wie lange es noch dauerte, bevor sie bei seiner Mutter waren.
Erst am zweiten Morgen im Zug passierte es: Er wachte aufund sah aus dem Fenster, und April befürchtete, dass er jetzt hinter ihre List gekommen auf.
»Wieso fahren wir nach Osten?«, fragte er. April tat so, als sei sie ganz in den
Rolling Stone
vertieft, den sie am Zeitungsstand in Osceola hatte mitgehen lassen.
Ein paar Minuten später sagte er: »Ich weiß ja, dass ich sie nicht mehr alle habe, aber jetzt bin ich tatsächlich überzeugt,
dass die Erde sich in die verkehrte Richtung dreht.« Er stieß April an der Schulter an und zeigte aus dem Fenster. »Da ist
die Sonne. Wir fahren nach Osten. Nach Osten!«
April bemerkte die Anzeichen seiner wachsenden Unruhe. Er beugte sich vor und begann, krampfhaft nach irgendjemandem Ausschau
zu halten, als hinge sein Leben davon ab. Genauer gesagt war sich April sicher, dass er einen Schaffner suchte, damit der
ihm seine Ahnung bestätigte.
»Man fährt nicht immer schnurgerade nach Westen, wenn man nach Westen will, Grandpa«, behauptete sie und blätterte betont
lässig die Seiten durch. »Manchmal fährt man ja auch auf Autobahn, und wenn man dann an eine Stadt kommt, will man den Verkehr
umfahren. Also wechselt man auf eine andere Autobahn, die darum herumführt, und plötzlich fährt man in eine ganz andere Richtung
als die, in die man wollte, und in der anderen Richtung muss man ein Stück weiterfahren, bis man wieder in die eigentliche
Richtung kommt. Manchmal muss man nach Westen fahren, um nach Osten zu kommen, und umgekehrt. Mehr ist da nicht dabei.«
Ihr Großvater starrte sie an. Dann lehnte er sich zurück und sprach abgesehen
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