Die fernen Tage der Liebe
angehen lassen. Vielleicht
hast du noch ein paar Schmerzen wegen der Beule und dem Schnitt auf der Stirn. Tylenol für die Schmerzen, falls du welches
brauchst. Irgendwelche Fragen?«
»Nö«, antwortete ihr Großvater.
Der Arzt wandte ihm einen raschen Blick zu und sah dann wieder April an. »Ich hatte eigentlich die junge Dame gemeint.«
»Nein«, sagte April. »Keine Fragen.«
»Sehen Sie?«, sagte ihr Großvater. »Die ist hart im Nehmen. Wie ihr Opa.«
Der Arzt schien gar nicht zuzuhören. Er notierte etwas auf das Krankenblatt. Dann klickte er seinen Kugelschreiber zu und
steckte ihn in die Brusttasche seines weißen Kittels. Er sah April ernst an, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr gleich
den kolossalen Gefallen tun würde, einen weisen und freundschaftlichen ärztlichen Rat zu erteilen.
»Du solltest mal die Leute sehen, die hier hereinkommen und keinen Sicherheitsgurt getragen haben«, dozierte er. »Nicht vielevon denen kommen auch wieder raus. Nach der Beule an deinem Kopf zu urteilen, die vom Lenkrad herrührt, kannst du froh sein,
dass du einen um hattest.« Er wandte sich zum Gehen, was April nur recht war. Dieser Typ war ja zum Kotzen. Aber genau in
diesem Moment öffnete sich der Vorhang. April sah gar nicht erst auf. Sie konnte regelrecht spüren, wer es war.
»Und Sie sind …?«, fragte der Arzt.
»Marcy Shea. Die Mutter. Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Herr Doktor?«
April sah, dass sie ihm kaum eine andere Wahl ließ, denn sie fasste den Arzt am Ellbogen und führte ihn hinaus auf den Flur.
April sah zu ihrem Großvater hoch. Der zwinkerte ihr zu.
»Keine Sorge, Kleines. Da kommen wir schon durch.«
Noch bevor April antworten konnte, stand ihre Mutter vor ihnen und starrte April wütend an.
»Aha. Du hast also am Steuer gesessen.«
»Hör mal, Marcy.«
»Halt den Mund, Alter!«, befahl seine Mutter. »Ich spreche mit meiner Tochter. Dass du ein Lügner bist, weiß ich schon längst.
O Gott, und wie ich das weiß. Jetzt muss ich herausfinden, ob meine Tochter ebenfalls lügt.«
War es jetzt soweit, fragte sich April. War dies der Zeitpunkt, auf den sie sich schon seit längerem vorbereitete, über den
sie auch schon in ihrem Tagebuch und ihren Liedern geschrieben hatte? Der Zeitpunkt, endlich das eine Wort auszusprechen,
von dem sie wusste, dass es ihre Mutter am allermeisten verletzen würde? Als Mutter –
versagt
. Als Ehefrau –
versagt.
Im Berufsleben –
versagt.
In ihren Tagträumen hatte sie, wenn sie sich diesen Moment vorstellte, das Urteil ganz ruhig und sachlich verkündet, während
ihre Mutter sich immer tiefer geduckt und schließlich um Vergebung gewinselt hatte. Es war in einem Restaurant,und April stellte sich vor, wie sie plötzlich aufstand, sich noch einmal vor ihrer Mutter aufbaute und dann endlich hinausmarschierte,
während ihre Mutter auf ihren halb aufgegessenen chilenischen Wolfsbarsch oder was auch immer stierte.
Als April später noch einmal diesen Moment im Krankenhaus Revue passieren ließ, fragte sie sich, ob ihr Großvater, ihr Mitverschwörer,
irgendwie gespürt hatte, was April vorhatte und – so wie es ihr erst ein paar Minuten mit ihm gegangen war – nun seinerseits
erkannt hatte, dass
sie
gerettet werden musste. Denn er war es, der nun sprach, nicht April. Er sah ruhig, aber traurig aus.
»Deine Tochter ist keine Lügnerin, Marcy«, sagte er. »Sie ist ein gutes Mädchen. Das hat du prima hingekriegt.«
Die Reaktion ihrer Mutter war genau so, wie April sie sich in ihrer Fantasie immer ausgemalt hatte: Überraschung, Schock sowie
– und das war eigentlich das Beste – Sprachlosigkeit.
Und dann, ohne sich noch einmal umzudrehen, ohne ein Nicken oder verschwörerisches Zwinkern, lief ihr Großvater den Flur hinunter.
April und ihre Mutter sahen ihm nach. Er kam April groß vor. Groß und kräftig, selbst in dieser lächerlichen Jacke und den
peinlichen Galoschen und obwohl er nur Trippelschritte machte und am Ende des Flurs genau unter dem Schild »Ausgang« stehen
bleiben und sich orientieren musste, wo es lang ging.
10
Marcy zuckte innerlich zusammen, als Hank sich nach einem Schluck Merlot schmatzend vorbeugte und dabei fast sein Wasserglas
umstieß.
»Es ist an der Zeit«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Es wird nicht leicht. Aber Sie müssen es tun.«
Der alte Witz fiel ihr ein, dass man am besten erkennen konnte, ob ein Anwalt log, indem man darauf achtete, ob sich beim
Sprechen sein
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