Die fernen Tage der Liebe
Rückwurf, und der Mann an der zweiten Base schlug Nick ab, obwohl er kilometerweit drin gewesen war, und
dann rief der Schiedsrichter »Safe!«, und derJubel schwoll wieder an. Nick blickte hinüber zur Ersatzbank und sah, dass alle aufgesprungen waren und ihm zujubelten, sogar
der Trainer. Dann drehte er sich zu den Behelfsbänken um und sah, dass auch sein Vater aufgestanden war, er klatschte und
pfiff. Er sah seine Mutter, wie sie zuerst zu seinem Vater hochblickte und dann zu ihm herüber, sie strahlte. Sie wusste,
wie das war. Als Nick jetzt noch einmal darüber nachdachte, kam ihm der seltsame Gedanke, dass seine Mutter womöglich schon
damals, als sie ihren Sohn auf der zweiten Base anstrahlte, gewusst hatte, dass er eines Tages verträumt durch die Gegend
fahren und diesen Augenblick noch einmal Revue passieren lassen würde.
Nick bekam feuchte Augen. Das passierte ihm meistens, wenn er an seine Mutter dachte, vielleicht sogar noch häufiger als beim
Gedanken an Marilyn. Sie alle hatten diese Frau in den Himmel gehoben, und Nick war durchaus klar, dass diese rosarote Sicht
der Dinge an ihrem frühen Tod lag. Ihre Fehler und Eigenarten waren zugunsten der Erinnerungen an die Heilige zurückgetreten.
Nick hatte größte Mühe, sich überhaupt an irgendwelche Makel oder wenigstens Schwächen zu erinnern. Die einzige, die ihm einfiel,
war, dass sie in ihren letzten Tagen ungewöhnlich oft geklagt hatte. Aber eigentlich wäre es eine himmelschreiende Ungerechtigkeit
gewesen, das überhaupt als Schwäche zu bezeichnen. Was hätte sie denn machen sollen? Er hatte einmal gelesen, dass Knochenkrebs
eine besonders schmerzhafte Form war. Wenn nicht seine Mutter das Recht zum Klagen gehabt hatte, wer dann?
Eines Abends war er auf seinem Zimmer und nahm mit dem Kassettenspieler, den er zu Weihnachten bekommen hatte, Songs aus dem
Radio auf. Er verbrachte Stunden um Stunden mit solchen Aufnahmen und notierte sich akribisch die Titel und die Künstler.
Um das, was er hören wollte, wiederzufinden, benutzteer das Zählwerk des Recorders. Aber an jenem Abend hörte er, als er gerade »Stairway to Heaven« aufnahm, seine Mutter laut
aufschreien. Sein Zimmer lag gegenüber dem Schlafzimmer seiner Eltern. Seine Eltern schienen irgendeinen Streit zu haben.
Nick war unglaublich wütend, dass sein Vater sich jetzt auch noch streiten musste. Aber da er nun er ein Gerät besaß, mit
dem er diese Verfehlung dokumentieren konnte, konnte er vielleicht endlich einen Beweis für die Grausamkeit seines Vaters
beibringen. Er stellte das Radio leiser und ließ den Recorder weiterlaufen, bis er hörte, wie sich die Schlafzimmertür seine
Eltern schloss und sein Vater mit verhallenden Schritten die Treppe hinabstieg.
Nick drückte auf Rücklauf, hielt dann das Band an, setzte einen Ohrhörer auf und lauschte den entfernten, gedämpften Stimmen
seiner Eltern. Seine Mutter weinte so sehr, wie er es noch nie gehört hatte.
Es ist einfach zu viel, Bill. Die Kinder werden sich nur noch daran erinnern. Ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Aber
nun bitte ich dich, das für mich zu tun.
Dann hörte er noch mehr Weinen. Aber das war nicht seine Mutter. Nick warf das Band aus und legte es in die oberste Schublade
seines Schreibtisches. Dann saß er lange nur da und versuchte sich zusammenzureimen, worüber sie wohl gestritten hatten.
Nach der Beerdigung trug er die Kassette hinunter zur Werkbank seines Vaters im Keller. Er holte sich eine Rasenschere und
schnitt das Band in kleine Schnipsel, dann warf er den ganzen Haufen in den Müll. Mike oder Marcy gegenüber erwähnte er die
Aufnahme oder deren Inhalt nie.
»Wir werden es nicht rechtzeitig schaffen, hab ich recht?«, fragte Marcy. Die Sonne ging schon auf, und sie waren immer noch
in Illinois.
»Wie lange bist du schon wach?«, fragte er aufgeschreckt, so als hätte Marcy heimlich seine Gedanken mitgehört.
»Weich nicht meiner Frage aus, Nick«, beharrte Marcy. »Wir kommen nicht pünktlich, stimmt’s?«
»Sicher tun wir dass«, antwortete er, obwohl er sich überhaupt nicht sicher war.
Eine Stunde später machten sie eine Pinkel- und Kaffeepause. Während Nick auf Marcy wartete, klingelte sein Mobiltelefon.
Mike war dran.
»Ich weiß ja nicht, wo ihr zwei gerade steckt, aber ihr könnt ebenso gut wieder kehrtmachen«, sagte sein Bruder.
Nick hätte beinahe gelacht. Smalltalk konnte man Mike nun wirklich nicht vorwerfen. Da sie
Weitere Kostenlose Bücher