Die Feuer von Troia
alle für tot«, rief sie.
»Ja, ich habe erfahren, daß du uns gesucht hast. Aber wir waren auf den Inseln, weil wir hofften, dort Hilfe und vielleicht eine neue Heimat zu finden«, erklärte Penthesilea. »Unsere Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, und deshalb kamen wir zurück. Aber ich hatte keine Möglichkeit, dich zu benachrichtigen.«
»Weshalb seid ihr hier? Und wie viele seid ihr?«
»Mich begleiten alle Amazonen, die sich nicht entschlossen haben, unter der Herrschaft der Männer in Dörfern und Städten zu leben. Wir kommen, um Troia gegen seine Feinde zu verteidigen«, erwiderte Penthesilea. »Vor vielen vielen Jahren hat Priamos mir einmal gesagt, ehe er Frauen um Hilfe zur Verteidigung seiner Stadt bitten würde, müßten wahrlich schlechte Zeiten für Troia kommen. Vielleicht weiß ich inzwischen besser als er, wie schlecht es um Troia steht.«
»Ich weiß nicht, ob Vater dir zustimmen würde«, überlegte Kassandra. »Die Truppen jubeln, denn gerade hat Hektor einen der gefährlichsten Kämpfer im Lager der Achaier getötet.«
»Ja, man hat es mir hier im Tempel berichtet«, erwiderte Penthesilea. »Aber ich glaube nicht, daß Troia dem sicheren Frieden einen Schritt näher ist, nur weil Patroklos nicht mehr lebt.«
»Tante«, sagte Kassandra ernst, »Troia wird fallen. Aber nicht durch die Hand eines Mannes. Glaubst du, wir können gegen die Hand eines Gottes etwas ausrichten?«
Penthesilea lächelte auf die alte vertraute Weise und erwiderte: »Wir müssen nicht die Zerstörung der Mauern fürchten, sondern den Verlust der Fähigkeit, uns zu verteidigen. Troia könnte erobert und geplündert werden, und wenn es der Wille der Mächte dort oben ist, daß dies geschieht…« Sie brach ab, breitete die Arme aus, und Kassandra flüchtete sich wie früher als Kind zu ihr. »Mein armes Kleines, wie lange trägst du das schon allein mit dir herum? Gibt es niemanden in Troia, keinen Soldaten, König oder Priester, der deiner Sehergabe vertraut?« fragte sie und drückte sie wie ein Kind an sich. »Keiner deiner Verwandten oder Brüder? Nicht einmal dein Vater?«
»Er am allerwenigsten«, murmelte Kassandra. »Sie werden böse, wenn ich von Troias Untergang spreche. Sie wollen es nicht hören. Und da ich keinen Ausweg aus diesem verhängnisvollen Schicksal zeigen kann, sondern nur wiederhole, daß es eintreffen wird…, haben sie vielleicht recht, wenn sie nicht darüber nachdenken.«
»Dann leidest du ganz allein …« Penthesilea schwieg und seufzte. »Aber jetzt muß ich mit meinen Kriegerinnen zu Priamos gehen und deine Mutter, meine Schwester, begrüßen.«
»lch werde dich in den Palast begleiten, damit er dich freundlich empfängt«, sagte Kassandra.
Die alte Amazonenkönigin lachte. »Er wird mich nicht freundlich empfangen, mein Schatz. Je verzweifelter Priamos die Kampfkraft meiner Frauen braucht, desto weniger bin ich, willkommen. Bestenfalls kann ich hoffen, daß er uns nicht abweist. Aber vielleicht habe ich lange genug gewartet, und er begreift, wie sehr er ein paar gute Kriegerinnen braucht. Wir sind vierundzwanzig.«
»Du weißt ebenso gut wie ich, Troia kann es sich nicht leisten, Hilfe zurückzuweisen. Selbst dann nicht, wenn du ein Heer Kentauren mitgebracht hättest«, sagte Kassandra.
Penthesilea seufzte und schüttelte den Kopf. »Ein solches Heer wird es nie mehr geben«, meinte sie traurig. »Ihre letzten Krieger sind nicht mehr. Wir haben ein halbes Dutzend ihrer jüngsten Söhne zu uns genommen, nachdem ihre Pferde alle verendet waren. Jetzt reißen die Dörfler die Erde auf, um Gerste und Rüben zu pflanzen. Sie weiden ihre Ziegen und Schweine dort, wo einst die Kentauren mit ihren Pferden umherstreiften. Auch unsere Stuten sind bis auf diese hier tot. Es gibt nur noch wenige Pferde auf der Ebene in der Umgebung von Troia. Die Achaier oder die Troianer haben die wilden Herden eingefangen.«
»Apollons heilige Herde weidet noch frei an den Hängen des Ida. Bis jetzt hat noch niemand gewagt, sie anzurühren«, erinnerte sie Kassandra. »Selbst die Priesterinnen von Vater Skamander haben nicht versucht, ihnen Halfter anzulegen.« Sie mußte an Oenone denken und fragte sich, wie es ihr wohl gehe. Es war schon viele Jahre her, seit sie Oenone zuletzt gesehen hatte. Inzwischen kamen die Frauen vom Ida nicht mehr zu den Festen herunter in die Stadt. Paris erwähnte Oenone nie mehr, und soweit Kassandra es beurteilen konnte, dachte er auch nicht an sie, obwohl nach dem Tod
Weitere Kostenlose Bücher