Die fiese Meerjungfrau
aussehen. »Meine Jugend?«
»Ich übe mich seit mehr als zweihundert Jahren in Magie«, antwortete Morveren. »Du hast doch allenfalls zwanzig, dreißig Jahre damit zugebracht.«
»So in etwa.«
»Dir fehlt es an Subtilität. Wenn deine Zaubersprüche Lieder wären, würdest du aus vollem Halse schreien. Es ist mir schon vorher aufgefallen, als du deinen Schild gegen meine Stimme gewirkt hast. Und deine Spiegel: Sie geben mächtiges Handwerkszeug ab, aber du benutzt sie als Krücken. Wer immer dein Lehrer war, er hätte nie zulassen dürfen, dass du so abhängig wirst von -«
»Ich hatte keinen Lehrer.«
Morveren lehnte sich zurück und musterte Schnee, als sähe sie sie zum ersten Mal. Als sie sprach, war der Spott aus ihrer Stimme verschwunden. »Du hast dir alles allein beigebracht? Und hast dich dabei nicht selbst umgebracht?«
»Noch nicht«, sagte Schnee.
»Vielleicht hast du ja doch Potenzial.« Sie lächelte, als sie sprach. »Schließ die Augen.«
»Wieso?«
Morveren spritzte sie nass. »Willst du lernen oder nicht?«
Widerwillig machte Schnee die Augen zu. »Und was jetzt?«
»Jetzt hörst du meinem Lied zu.«
Schnee wartete. Sie konnte hören, wie die Wellen sich am Schiffsrumpf brachen. Zwei Matrosen gingen vorbei und unterhielten sich im Flüsterton über das Hiladi-Schiff. Taljen quietschten, als die Mannschaft die Segel brasste. »Du singst ja gar nicht.«
»Du hörst nicht zu«, konterte Morveren. »Du versuchst es zu angestrengt. Du bist viel zu angespannt, wie ein Kind, das glaubt, dass es Perlen scheißen kann, wenn es nur fest genug drückt.«
Schnee klappte ein Auge auf. »Das können Undinen?«
»Nein. Aber meine älteren Brüder haben grausame Geschichten erzählt, als ich klein war. Jetzt halt die Klappe und hör zu!«
»Du hast leicht reden!« Schnee zog an ihren Ohrläppchen und versuchte, das Verstopfungsgefühl loszuwerden. »Du bist ja nicht diejenige, der man die Ohren mit Wurmpampe verkorkt hat!«
»Dann hör doch auf, sie zu benutzen!«
Schnee legte die Hände auf die Oberschenkel und versuchte es noch einmal. Schon früh hatte sie gelernt, Dinge zu sehen, die nicht da waren - es war die einzige Möglichkeit, die Spione zu entdecken, die ihre Mutter schickte, um sie zu beobachten. Kobolde und niedere Dämonen, kaum mehr als flackernde Nachbilder. Sie waren nicht unsichtbar, nicht im herkömmlichen Sinn, vielmehr versteckten sie sich zwischen dem Wirklichen und verschmolzen mit ihrer Umgebung. Der Trick war, die reale Welt aus dem Brennpunkt zu rücken, um zu sehen, was dahinter lag.
Dasselbe versuchte sie jetzt mit den Geräuschen um sich herum. Stimmen verblassten zu Gemurmel. Das Brechen der Wellen ging in ein gleichmäßiges Rauschen über. Sie konnte den Trommelschlag ihres eigenen Herzens hören. Selbst dieses Geräusch wurde immer schwächer, bis das Pulsieren ihres Blutes nur noch wenig mehr als ein ferner Rhythmus war.
Einen Moment lang glaubte sie, es zu hören. Summend, zart und schwach, wie ein durch eine Flöte wehender Hauch. Schnee streckte ihre Sinne aus, aber der Laut entglitt ihr.
»So subtil wie ein verliebter Tintenfisch, das bist du!«, sagte Morveren. »Du vergeudest mehr Magie darauf, nach meinem Lied zu suchen, als ich für den eigentlichen Zauber aufgewandt habe. Du überflutest ihn mit deiner Unbeholfenheit!«
Schnee streckte ihr die Zunge raus, behielt jedoch die Augen geschlossen. Ruhe war nie leicht zu ihr gekommen, aber sie tat ihr Bestes. Langsam kehrte das Summen zurück. Eine einfache Tonleiter in Moll, deren Töne immer wieder anstiegen und fielen.
»Gut. Mach die Augen auf!«
Schnee stellte fest, dass Stummel auf dem Bootsrand saß, den Kopf schief gelegt, die Zungenspitze aus dem Mund baumelnd. »Wie hast du das angestellt? Dein Lied war nicht einmal stark genug, um einem Schmetterling etwas zu befehlen!«
»Lannadae hat mir erzählt, was passiert ist, als du Talia und Danielle zu ihr nach unten gebracht hast, um mit ihr zu reden. Lannadae hatte Angst und griff sie an. Lannadae ist eine Undine; sie ist stärker als jeder Mensch, aber Talia hat sie besiegt. Wie?«
»Zuerst einmal trägt Talia genug Waffen, um ein ganzes Bataillon damit auszurüsten.« Schnee hob die Hand, bevor Morveren etwas sagen konnte. »Schön, Stärke ist also nicht alles.«
Morveren streckte die Hand aus und kitzelte Stummel am Ohr. »Es braucht nur einen einzigen Gedanken, um den Verstand zu lenken. Deine Aufgabe ist es, den richtigen Gedanken zu
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