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Die Flammen der Dunkelheit

Die Flammen der Dunkelheit

Titel: Die Flammen der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyne Okonnek
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Meine Kinder, dachte er, sie werden für mich weinen, wie sie es immer getan haben und bis sie alles Leben ertränken. Er stellte sich vor, hier oben zu stehen, umgeben von nichts als Wasser, und er wurde ruhiger. Sollte so das Ende der Welt aussehen, wäre das ganz in seinem Sinn. Aber noch flackerten die Lichter der Stadt zu seinen Füßen. Jetzt regte sich Hass in ihm, Hass auf die Menschen. Oder war er in Wirklichkeit für sie bestimmt, für die Eine, an die er beständig dachte? Er schüttelte wütend den Kopf. Nein, er durfte ihren Rufen nicht folgen! Er brauchte seine Kraft, um die beiden Jungen zu finden. Sofort wurde ihm wieder bewusst, dass sie längst zu Männern geworden waren, und ihn schauderte. Wie lange konnte es dauern, bis man sie aufgestöbert hatte? Jedes Mal, wenn die Truppen Gefangene im passenden Alter anschleppten, hoffte er, die Suche hätte endlich ein Ende. Aber nie waren sie dabei, er überzeugte sich stets selbst davon, und auf sein Gespür konnte er sich verlassen. Es würde ihnen nicht gelingen, ihn in dieser Sache noch einmal zu täuschen. Seit Dallachars Enttarnung verließ er sich nicht mehr auf den bloßen Augenschein. Er musste die beiden unbedingt in seine Gewalt bekommen, sein Leben hing davon ab! Dieser Gedanke hatte einen neuen, ganz ungeheuerlichen zur Folge: Er musste die Dämonin töten! Sofort! Dies war der sicherste Weg, die Erfüllung der Prophezeiung zu verhindern. Warum war ihm dieser Zusammenhang nicht schon früher aufgefallen? Er kannte die Antwort, aber er schob sie beiseite. Stattdessen eilte er hinab in die Gebetshalle und von dort aus die Wendeltreppe hinunter in die Kerker.
    Je näher er seinem Ziel kam, desto langsamer wurde er. Beinahe zögernd öffnete er die letzte Tür. Sobald er eintrat, wich die Dunkelheit dem seltsamen Licht, das alles fahl und unwirklich erscheinen ließ. Doch sie war da, der Sarg unberührt. Das musste sich ändern! Es kostete ihn Mühe, den Deckel mithilfe des Flaschenzugs zu heben, er war kraftloser, als er gedacht hatte. Verbissen arbeitete er, bis das eiserne Ungetüm weit genug oben war. Ächzend befestigte er das Seil am Haken, um gleich darauf mit zitternden Knien und schweißüberströmt zu Boden zu sinken.
    Er wusste nicht, wie lange er so zusammengekrümmt dort kauerte. Nur die Angst, sie könnte plötzlich aus dem Sarg steigen, gab ihm die nötige Kraft sich aufzurappeln. Schritt um Schritt schleppte er sich zu ihr. Er wollte den Dolch, der am Kopfende befestigt war, an sich nehmen, aber als er ihr Antlitz erblickte, vergaß er sein Vorhaben. Wie schön sie aussah! Wie unsagbar schön! Selbst Jahrhunderte der Gefangenschaft hatten ihr nichts anhaben können, nur eine unnatürliche Blässe verriet ihre Schwäche, die das Eisen verursachte. Sein Inneres krampfte sich zusammen und er schwankte. So wie damals …
    »Erinnerst du dich noch an den Tag der Entscheidung? Sonnenstrahlen schmückten deine Haut und Blüten verschenkten ihren Duft nur für dich. Ich sehe deinen schönen Mund, wie er die grausamen Worte sprach.« Seine Stimme wurde brüchig und er hielt inne. Langsam fuhr er über seine geröteten Augen, als wollte er Tränen wegwischen. Aber auch heute noch war er innerlich zu erstarrt, um zu weinen. Er konnte nicht einmal sagen, ob der Schmerz, den er beständig in sich fühlte, Trauer oder Zorn war – sicher beides, vermutete er, wenn seine Gedanken klarer als jetzt waren. In dieser Nacht war er zu verwirrt. Irgendwas lag in der Luft, doch er war nicht in der Lage auszumachen, um welche Bedrohung es sich handelte und woher sie kam. Ihm war, als wären seine Sinne wie vom Alkohol betäubt. Doch trank er nie etwas anderes als Wasser.
    »Es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Tag für Tag, Nacht für Nacht schwebt dieses Bild vor meinen Augen, unzerstörbar. Ist es nicht bizarr, dass ich meinen Namen abgeben musste, um nur noch ›der Erwählte‹ genannt zu werden? Ich denke, Du wirst diese Ironie zu schätzen wissen.« Sacht strich er mit dem Zeigefinger die Konturen ihrer Lippen entlang, schob erst einen Mundwinkel, dann den anderen nach oben, schließlich beide gleichzeitig. »Lache, meine Königin, lache!« Sein eigenes Gelächter hallte durch den Raum, wurde von den weiß gekalkten Wänden zurückgeworfen. Er merkte nicht, wie sich seine Gesichtszüge zu einer grotesken Maske verzerrten. Weißlicher Schaum bildete sich in seinen Mundwinkeln und er bleckte die Zähne wie ein tollwütiges Tier. Als er sprach,

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