Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
fünfhundert, ja sechshundert Menschen in meiner Heimatstadt. Fremde werden nicht mehr hereingelassen. Kranke müssen gemeldet und gemieden werden. Venedig wird untergehen. Wer nicht gestorben ist oder im Sterben liegt, der hat längst das Weite gesucht, soweit er die Mittel dazu hat. Du wirst eine Geisterstadt vorfinden, Reisender. Eine stinkende, düstere Geisterstadt. Ärzte mit schaurigen Schnabelmasken werden dir begegnen sowie vermummte Abdecker, welche die ungezählten Toten und auch Sterbenden wie verendetes Vieh auf ihre Schiffe werfen, um sie zu Hunderten in Gruben abzuladen, die unermüdlich auf entfernten Inseln gegraben werden. Außer jenen wirst du keine Menschenseele antreffen, denn die Häuser sind und bleiben verschlossen. Ein jeder stirbt für sich allein. «
Unwillkürlich ließ Konrad die Zügel des fremden Pferdes los und streifte die Hand an seinem weißen Umhang ab. Sein gesamter Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Hätte er nicht die Schrecken in Messina erlebt und Ähnliches auf seiner Reise durch Italien aus Neapel vernommen, so hätte er den Bericht des jungen Venezianers für ein Schauermärchen gehalten.
In diesem Moment öffnete sich der schwere Brokatvorhang der Sänfte, und das Gesicht einer jungen, unglaublich schönen Frau kam zum Vorschein. Auf Konrads bis dato entsetzter Miene zeigte sich mit einem Mal ein überraschtes Lächeln, er verneigte sich leicht vor der anmutigen Schönheit. Zwar hatte er als Ordensritter das Gelübde der Keuschheit abgelegt, aber dennoch fiel es ihm schwer, seine Schwäche für das weibliche Geschlecht im Zaume zu halten, was bei dem Anblick eines solch reizenden Wesens ohnehin unmöglich war. Doch anstatt die höfliche Geste des Ritters zu erwidern, verdrehte die junge Frau mit einem Male ihre großen Augen, sodass nur noch das Weiße darin zu sehen war. Sie schwankte mit Kopf und Schultern mehrmals vor und zurück und stürzte im nächsten Moment aus der Sänfte heraus zu Boden. Konrad war blitzschnell von seinem Pferd gesprungen und zu ihr geeilt, er hob ihren zarten, schmalen Körper vom Boden auf und versuchte ein Lebenszeichen an ihr wahrzunehmen. Doch sie blieb regungslos, die hübschen, braunen Augen noch immer weit geöffnet. Dann, als Konrad ein Ohr an ihren Mund hielt, um zu lauschen, ob sie noch leicht atmete, sah er sie. Er sah die hässliche, schwarze Beule, groß wie ein Ei, auf dem weißen, schlanken Hals.
» Giulietta! « , rief der junge Mann fast kreischend aus und war nun ebenfalls zur Stelle. Weinend entriss er die Tote den Armen des fremden Ritters.
» Es ist hoffnungslos, Konrad « , hörte dieser nun die Stimme seines Freundes Crispin über sich. Crispin war herbeigeritten und wies Konrad mit einer ruppigen Geste an, sein Pferd besser wieder zu besteigen. » Ich glaube, es ist nun dringlicher, die Nachricht von dem drohenden Seuchenzug so rasch wie möglich in unsere Heimat zu tragen, als der Ballei Venedig einen Besuch abzustatten. «
Konrad nickte stumm. Die Augen noch immer starr auf die fast grotesk anmutige Pestleiche gerichtet, schwang er sich wie betäubt auf sein schweres Ross, wendete dieses und rief seinen Begleitern zu:
» Auf, Freunde! Worauf warten wir? Hinfort über die Alpen! «
Regino von Bunseborn hieß mit wahrem Namen Heinrich Klumpacker. Er war der Sohn eines ordentlichen, fleißigen Bauersmanns aus einem Dörfchen, nur wenige Meilen entfernt von dem Ort, in welchem er nun gelandet war, um sich als geschickter Bauernfänger zu präsentieren. Nie in seinem Leben hatte er jemals in der Nähe eines Königs geweilt, er war nie in böhmischen, mährischen oder polnischen Landen gewesen, wusste nicht einmal die genaue Richtung dorthin. Was er jedoch getan hatte, das war– recht früh, bereits mit zwölf Jahren–, seinen Heimatort zu verlassen und sich in den nahen Städten herumzutreiben. So war er für eine Weile der Laufbursche eines Höxteraner Krämers gewesen, danach Knecht in einer Zehntscheuer des großen Klosters Corvey, er schenkte Bier in einem Hamelner Wirtshaus aus und ging sogar für einige Monate dem Abdecker von Paderborn zur Hand. Im Grunde also war Regino viel herumgekommen. Und immer wenn es ihn in sein Dorf Bunseborn zurückzog, wo er den Leuten dann von seinen Abenteuern berichtete, musste jedermann zugeben, dass keiner von ihnen so viel von der Welt gesehen hatte wie der verrückte Sohn des Bauern Klumpacker.
Dennoch war das Vorhaben, das Regino nun anstrebte, so verwegen, so
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